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Der Selbstauflösungswunsch des Juan Goytisolo: "Der blinde Reiter" ist kein Buch für junge Leute.

Ich sage es dir klipp und klar: ihr wurdet geboren, um auf immer zu vergessen. Der Schmerz über den Verlust lässt nach, die Erinnerung verblasst, Gefühle und Empfindungen verlieren an Tiefe und Kraft. Dies ist das Gesetz der Welt, die ich angeblich erschaffen habe, und ihm seid ihr unterworfen. Es gibt keine untröstlichen Witwen und Kinder. Die dich umgeben, werden ein paar Tränen vergießen, doch dein Bild löst sich auf wie Schnee im Wasserglas." So spricht Gott im neuen Roman von Juan Goytisolo, "Der blinde Reiter". Damit ist die Zeit gemeint: "Die Zeit war ein blinder Reiter, den niemand aus dem Sattel warf."

Leben loslassen

Nach dem Verlust der Partnerin überschwemmen einen alten Mann die Erinnerungen. Er möchte loslassen, die Dinge, ja das Leben selbst. Der Mann ist Schriftsteller, und jetzt merkt der Leser schon, dass dieses Buch autobiographisch ist: Der berühmte spanische Autor, geboren 1931, rechnet ab mit sich, seinen Idealen, seinen Träumen, und was bleibt, ist keine Summe, nur ein Rest: zerborstene Illusionen liegen wie antike Trümmer auf seinem Lebensweg. Der einstige Marxist hört Gottes Stimme - oder ist auch sie eine Illusion? "Es gab keine Kontinuität zwischen seiner Vergangenheit als Kind, als junger Mann oder Erwachsener und dem erschöpften Körper, mit dem er sich widerwillig abfand."

Das ist kein Buch für junge Leute. Wer Goytisolos tragische Lebensgeschichte nicht kennt, wird den aus kurzen Kapiteln bestehenden Roman als unzugänglich empfinden, weil der Autor vieles nur andeutet: Den Verlust seiner Mutter, als er sieben Jahre alt war; sie kam bei einem Bombenangriff auf Barcelona während des Bürgerkriegs ums Leben. Die Bomben warf die Franco-Seite. Die anderen, die Republikaner, sperrten seinen Vater ein. Der Großvater missbrauchte den eigenen Enkel. Dieser schwankte sein Leben lang in seiner sexuellen Ausrichtung zwischen Männern und Frauen. Die Bücher des linken Juan Goytisolo waren während der endlos langen Franco-Jahre in Spanien verboten, er lebte in Paris und Marrakesch. Jetzt findet er sich in einer Phase, in der die Schatten dichter werden und er spürt, dass er bald gehen muss, "ohne einen möglichen Sinn erfasst zu haben". Ein Agnostiker vom Verstand her, bei dem sich Gott meldet. Den haben sich die Menschen in ihrer Angst vor dem Nicht-mehr-Sein selbst geschaffen. Sie brauchen ihn, alle Menschen, alle Völker, denn das Irrationale ist dem Menschen eingeboren. Wer Gott verbannt, huldigt Götzen, wie der einstige Kommunist Goytisolo nur zu gut weiß. Gottes Rede ist gewaltig: "Ihr seid ein wimmelnder Insektenhaufen, in dem jeder in eine Richtung zerrt und auf Kosten der anderen seinen unmittelbaren Vorteil sucht. Die brüderliche Gleichheit, von der einige träumen, ist eine Schimäre. Euch bleibt nur eine Gewissheit, und die wollt ihr nicht erkennen: es ist die Gleichheit der Toten."

Tief pessimistisch

Eine tief pessimistische Lebenssumme, diese Wahrnehmung des Lebens als eine Grube, "ein gefräßiges Loch, in dem die Erinnerung versank." Schließlich befiehlt die innere Stimme - Gott? - dem Erzähler: "Steh auf und geh." Von Marrakesch macht sich der Angesprochene auf ins Atlasgebirge, auf ein pflanzenloses Hochplateau, um zu sterben. Da erwacht er in seinem Haus, in seinem Zimmer. Noch ist es nicht so weit: "Er war, noch immer, unter den Zuschauern im Parkett des Theaters."

Zwischen einem Buch und seinem Leser muss nicht nur eine Vereinbarkeit der Temperamente, sondern auch der Erfahrungen gegeben sein. Wer schon einen langen Lebensweg hinter sich hat, wird Goytisolos strenge Prosa, seine mitleidlosen Gedanken bezüglich des eigenen Endes, aufnehmen können. Jene, die noch eine längere Lebensstrecke erhoffen, mögen sich hüten: Das Buch hat eine Sogwirkung ...

Der blinde Reiter

Roman von Juan Goytisolo

Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2006

132 Seiten, geb., e 18,30

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