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Stephen King rutschte an einem Fluss aus und fiel einer neuen Geschichte in die Arme. Das Unheimliche kriecht aus einem alten Auto.

Dinge, die man nicht erklären kann, machen nervös und ängstigen. Sie können aber auch unwiderstehliche Anziehungskraft besitzen, ungeachtet der Gefahr, die eventuell von ihnen ausgeht. "Neugier bringt die Katze um, gestillte Neugier bringt sie wieder", diesen wiederkehrenden Spruch könnte man Stephen Kings neuem Roman "Der Buick" voranstellen. Hoffen wir, dass uns der Autor nicht als Katzen betrachtet, mehr denn je spielt er mit der Neugierde, spannt gekonnt und spielerisch auf die Folter und wischt uns dann noch gewaltig eins aus, indem er uns im Dunkeln sitzen lässt: "Wir wissen ja auch nicht, woher wir kommen und wohin wir gehen, und leben ganz gut damit."

Dabei geht es im Grunde nur um einen alten Buick, nachtblau, Baujahr 1958, aber noch sehr gut in Schuss. Der Buick steht seit über 20 Jahren im Schuppen B auf dem Gelände der Polizeikaserne der Pennsylvania State Police. Verborgen unter einer Plane, als sollte er vor neugierigen Blicken geschützt werden. Aber wer muss sich vor wem in Acht nehmen? Manchmal schüttelt der Buick seine Plane ab, manchmal wird es im Schuppen viel kälter als draußen, manchmal geschehen in diesem Schuppen dann ganz eigenartige Dinge. Aber das ist noch lange nicht alles.

Man spricht nur mehr selten darüber in der Polizeikaserne. Bis eines Tages Ned Wilcox auftaucht, der Sohn eines Polizisten und "Buickologen", der bei einem Einsatz auf der Straße ums Leben kam, überfahren von einem betrunkenen Tankwart. Ned ist ein sympathischer Junge. Aufgeweckt, intelligent, neugierig. Nach dem Tod seines Vaters verbringt er viel Zeit bei dessen Kollegen in der Polizeikaserne, arbeitet in seiner Freizeit als Volontär, macht sich nützlich und schnüffelt herum, als wollte er im Umfeld des Toten auf etwas stoßen, das ihn wieder lebendig machen könnte. Und er entdeckt auch etwas - etwas ganz Anderes, Unerklärliches, Gefährliches.

Einem Schriftsteller fallen manchmal Ideen in den Schoß, beim Plot zu "Der Buick" sei es allerdings umgekehrt gewesen, wie Stephen King in der Nachbemerkung ausführt: hier sei der Autor seiner Geschichte in den Schoß gefallen, auf einer Tankstelle in Pennsylvania, neben einem Wildwasserrinnsal, an dessen Ufer er entlangspaziert und dabei beinahe darin gelandet sei. Und als er so über seinen Ausrutscher nachgrübelt, fragt er sich, "was wohl passiert wäre, wenn ich in den Bach gestürzt wäre (der vor lauter Schmelzwasser zumindest zeitweilig ein kleiner Fluss war). Wie lange hätte mein Wagen an den Zapfsäulen gestanden, ehe der Tankwart unruhig geworden wäre? Wen hätte er gerufen? Wie lange hätte es gedauert, bis man mich gefunden hätte, wenn ich ertrunken wäre?"

Und schon finden wir uns mitten im Roman, im Jahre 1979, sehen einen nicht allzu verschwenderisch mit geistigen Gaben ausgestatteten Tankwart die State Police anrufen und jene den seltsamen Wagen abschleppen, der nach den irdischen Regeln der Physik gar nicht fahrtauglich sein könnte. Sein mindestens ebenso seltsamer und reichlich unheimlicher Fahrer bleibt verschwunden. Und der Wagen künftig im Gewahrsam der Pennsylvania State Police, Troop D. Im Schuppen B. Es handelt sich um einen nachtblauen Buick.

Nachdem die Spurensicherung sich das Fahrzeug unter die Lupe genommen hat, steht zumindest eines fest: Mit dem Oldtimer stimmt etwas nicht. Oder vielmehr, es stimmt damit fast gar nichts. Kein Steinchen, kein Nagel bleibt länger als ein paar Sekunden im Profil der Reifen haften, jeder Kratzer verschwindet binnen Kürze. Es gibt keinen Tank, keine Kühlflüssigkeit, keinen Keilriemen und keine Lichtmaschine und einen Motor, der so nicht funktionieren kann. Hat irgend jemand dieses Auto fahren sehen? Nein, niemand - der ständig betrunkene Tankwart (der Jahre später Neds Vater auf dem Gewissen haben wird) ausgenommen, der gilt aber kaum als verlässlicher Zeuge.

Die Spurensicherung zieht ab und man geht zur Tagesordnung über. Das Unerklärliche geht unter im Trubel des Alltags. Man muss mit dem Rätsel leben, so wie mit den vielen anderen Rätseln auch, die uns umgeben. Es werden Einsätze gefahren, Menschen verhaftet, andere gerettet, dritte getötet. Die Polizisten sind es gewohnt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Das tägliche Leben ist spannend und aufreibend genug, da braucht man nicht auch noch "Normalbürger", die ein Fahrzeug bestaunen wollen, das keines ist. Nur keine Ufo-Pilger bitte. Und was geheim gehalten wird, das kann auch schon einmal in Vergessenheit geraten.

Doch der Buick ruft sich verlässlich immer wieder in Erinnerung, versprüht violette Blitze und widerliche Gerüche, gebärt Wesen, die an absolut nichts erinnern, was auf Erden kreucht und fleucht und deren - etwas unprofessionelle --Obduktion wenig Licht in die Geheimnisse bringt. Ebensowenig wie die anderen Experimente, die man mit dem Buick und seinen "Fehlgeburten" anstellt, die entweder bereits tot sind, wenn man sie findet, oder umgehend zur Strecke gebracht werden.

Hier kommt die Schuldfrage ins Spiel. Wie in den meisten anderen Romanen von Stephen King gibt es auch hier die Guten und das Böse. Doch die Grenze ist nicht ganz so deutlich gezogen wie sonst. Menschen töten ein Wesen, das sie wegen seiner Fremdheit als ekelerregend und bedrohlich empfinden. Sie werden aus Angst zu Mördern - und sie sind sich dessen völlig bewusst. Und können doch erst wieder durchatmen, sobald "das Ding" aus ihrem Umkreis verschwunden ist, verwest, zersetzt, bewegungs- und lebensunfähig. Es ist schwer, etwas zu akzeptieren, das man nicht versteht und das so anders und fremd ist, dass es Ekel hervorruft &

Aber wie zur Rechtfertigung stellt der Buick immer wieder seine Bösartigkeit unter Beweis. Es verschwinden Tiere - und manchmal auch Menschen. Und die Lebenden scheint er zu rufen: die Loreley der Jahrtausendwende hat die Form eines Amischlittens angenommen.

Stephen Kings Erzählweise ist in diesem Roman eine besonders langsame. Ein paar altgediente Polizisten sitzen einen Abend lang auf der Raucherbank vor der Kaserne und erzählen dem jungen Sprößling des verunglückten Kollegen die Geschichte vom mysteriösen Buick, die er unbedingt hören will, und noch viele kleine Geschichtchen, die er (ebenso wie der Leser) nicht so unbedingt hören will, weil sie die Entwicklung der Haupthandlung verzögern. Und dieser Abend dauert fast 500 Seiten. Die wechselnden Erzähler spielen ebenso angeblich unbewusst und "erzieherisch" mit Neds Erwartungshaltung wie King - gekonnt und bewusst - mit der seiner Leser, und genau das macht den Roman interessant. Rasant wird es dann erst am Ende, wenn die Handlungsstränge der Vergangenheit mit der Gegenwart verknüpft werden. Aber dem wollen wir nicht vorgreifen.

DER BUICK

Roman von Stephen King

Ullstein Verlag, Berlin 2002 496 Seiten, geb., e 22,-

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