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Alles anders gilt heuer beim Steirischen Herbst: Mit einem Marathon-Camp hat man auf die Umbrüche in der Welt reagiert und eine Woche lang mit dem Widerstand experimentiert.

Die Wahrheit ist konkret“ stand über Bertolt Brechts Schreibtisch in seinem dänischen Exil. Er hatte das Zitat von Lenin, dieser von Hegel, und der wiederum von Augustinus - eine denkbar weite Spanne. Und es steht derzeit als Leitthema über dem diesjährigen Steirischen Herbst, welcher am 21. September seine Türen öffnete und diese Mitte Oktober (mit Ausnahme der Ausstellungen) wieder schließt -auf Englisch freilich ("Truth is concrete“) mit dem Nachteil, dass Wahrheit nicht nur konkret, sondern auch Beton sein kann. Nach "Meister, Trickster, Bricoleure - Virtuosität als Strategie für Kunst und Überleben“, den "Strategien zur Unglücksvermeidung“ und "Zweite Welten“ hat der Herbst heuer sein Motto zum Auftakt in die Tat umgesetzt. 170 Stunden rund um die Uhr, sieben Tage lang wurde der Frage nach konkretem Handeln in einer von gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen geprägten Zeit nachgegangen. Und ob Kunst überhaupt ein politisches oder soziales Werkzeug sein kann.

Weg vom Repräsentativen

Dem O-Ton der Herbststrategen war also vorab bereits zu entnehmen, dass das Gegenwartsfestival heuer ganz anders zu sein habe: Auf theoretische Befunde und Grundsatzreden wartete man ebenso vergeblich wie auf die obligate Eröffnungsparty nach dem großen Auftakt. Vom repräsentativen Ambiente der Helmut-List-Halle wechselte man auf die Baustelle Thalia neben der Oper, ein über die Jahre durch Umbauten weitgehend vernichtetes Baujuwel aus den 1950er-Jahren. Dort richtete man für eine Woche ein "Marathon-Camp“ ein (24/7-Camp), an dem 150 Künstler, Aktivisten und Wissenschafter performten, debattierten und produzierten. Zu den prominentesten zählten der New Yorker Kultprediger Reverend Billy, Antanas Mockus, der Ex-Bürgermeister von Bogotá, der mit künstlerischen Strategien die Lebensqualität in der von Verbrechen und Korruption geprägten Millionenstadt erhöhte, oder Srda Popovi´c, eine zentrale Figur der Studentenbewegung Otpor!, die den serbischen Diktator Slobodan Miloˇsevi´c zu Fall brachte, sowie die Frauen der ukrainischen Aktivistinnengruppe Femen, die zu Symbolfiguren eines feministisch orientierten Protestaktionismus geworden sind: ein Theoriecamp als performative Form der Anteilnahme an den Dingen, die weltweit vor sich gehen. Eine Wissensmaschine, die keine Pause einlegte und nonstop Argumente und Erkenntnisse aussprach.

Das dazu notwendige Interieur wie Schlafkojen, Mensa, Bar, Gemeinschaftsduschen lieferte die Architektengruppe "raumlaborberlin“. Sie fabrizierte aus Rest- und Sperrmüllmöbeln diese "Protesteinrichtung für alle Fälle“. Vor dem Thalia-Areal stellte man einen Glasturm aus alten Fenstern und Türrahmen auf, ein fragiles Bloghaus, in dem unten Dauerberichterstattung stattfand und oben der "Garten des biologischen Ungehorsams“ wucherte. Man konnte der amerikanischen Aktionskünstlerin Katherine Ball beim Hegen und Pflegen ihrer grünen Guerillaoase zusehen. Experimentiert wurde dort mit mutierten Fruchtfliegen, pestizidresistenten Pflanzen und der Pilzart Schopftintling, dessen Wachstumskraft Asphalt brechen kann. Maximal zu fünft konnte man dort (denn für mehr war das Glashaus von der Baubehörde nicht zugelassen worden) über ethische und ökologische Konsequenzen biologischen Ungehorsams mit der Künstlerin diskutieren.

Um parallel dazu den sagenhaften Theorieorganismus im Inneren des Festivalzentrums zum Durchmachen zu bringen, lud der Herbst hundert junge Stipendiaten aus aller Welt zum Mitleben und -reden ein. Aus 650, teils hochkarätigen Bewerbungen wählte man die besten aus. Allein superschlau zu sein, war für Florian Malzacher, Herbstdramaturg und Campinitiator, zu wenig für eine Einladung: Bedingung war eine nachweisbare Auseinandersetzung und Beschäftigung mit künstlerischen Strategien in Politik wie Kunst.

Doch vor anfänglicher Überforderung bei diesem Rund-um-die-Uhr-Programm waren auch sie nicht geschützt. Nonstop wurde Kunst erzeugt, die vor allem aus Vorträgen, Diskurs und Workshops bestand. Am Stundenplan standen allerdings auch Morgenspaziergänge durch Graz und eine tägliche "renunciation & revolution“-Yogastunde. Individuelle Erbauungseinheiten blieben dennoch gezählt. Es ging vor allem um Kritik an der Macht. Es ging um Veränderung, um Schnittmengen zwischen Kunst und Politik, Kunst und Aktionismus. Die Campbewohner waren regelrecht euphorisiert, der Einstieg für spät Dazugekommene, Quereinsteiger und Theoriegustierer war schwierig, aktionistische Atmosphäre schnuppern im ansonsten ruhigen Graz fiel leichter. Den Verdacht, dass das Camp mitunter im Charakter einer Inszenierung, eines Spiels stecken geblieben ist, wurde man dennoch nicht ganz los. Eine smalltalkfreie Zone war es allemal. Die Herbststrategen hatten den diskursiven Austausch im Blick, blieben manifestfrei und im Camprahmen mit wenigen Ausnahmen von öffentlichkeitswirksamen Interventionen verschont.

"Auch ich muss es verstehen“

In diesem Sinne wurde das Ziel erreicht. Und auch gleich wieder aus den Augen verloren. Wenige Stunden nach dem Ende des Camps - nun in der Helmut-List-Halle - experimentierte der Herbst mit einem "Rebranding European Muslims“. Es ist das Projekt der Performancegruppe "Public Movement“ - mit dem bizarren Anspruch mittels "Branding“ Muslimen in Europa einen anderen Stempel, ein besseres Image aufzudrücken. Im Rahmen einer Gala, die mit allen Elementen eines Benefizevents (teure Eintrittskarten, Erbauungsworte, musikalische Umrahmung, Gewissenserforschung, Dinner) aufwartete, wurde per Publikumsabstimmung aus drei Vorschlägen von Agenturen eine Siegeridee ermittelt, mit welcher "Public Movement“ in Zukunft weiterarbeiten wird. Alle drei Projekte - eine europaweite Promotion-Aktion zur Annahme muslimischer Vornamen (Love Tensa, Stockholm), ein Unterwandern ultrarechter Politdoktrinen via Internet (Metahaven, Amsterdam) und das siegreiche "Look Twice!“ der Agentur Demner, Merlicek & Bergmann - erzählen im Übrigen ihrerseits einiges über Wahrnehmung und Umgang mit Europas Muslimen. Die Wiener spielen mit dem Blick hinter Schriftfassaden und benützen die arabische Kalligrafie um das lateinische Alphabet zu verfremden. Sie haben ihre Arbeit gut gemacht. Das Projekt dahinter und davor zeigt allerdings einen Steirischen Herbst mit affirmativem und selbstreferentiellem Mäntelchen über recht schmalen Schultern. Selbst das distanzierende Moment von Intendantin Veronica Kaup-Hasler hätte nicht größer sein können - mit dem kurzen Gruß: "Ich wünsche einen schönen Abend!“

Um bei Brecht zu bleiben: In einer anderen Ecke seines dänischen Exils stand ein kleiner Holzesel mit einem Schild um den Hals: "Auch ich muss es verstehen.“

Steirischer Herbst 2012

bis 14. Oktober

www.steirischerherbst.at

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