"Stukkateur" statt "Student"

Werbung
Werbung
Werbung

Der spanische Autor jorge semprún wurde am vergangenen Sonntag in Salzburg mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet. die furche sprach mit dem KZ-Überlebenden über das Unvermögen zu schreiben und das Schreibenmüssen.

Die Furche: Wenn Sie zurückschauen auf die zahlreichen Bücher, die Sie geschrieben haben, wann hat sich der Schriftsteller herauszubilden begonnen?

Jorge Semprún: Eigentlich wollte ich Schriftsteller werden, als ich noch Kind war. Als ich von Buchenwald zurückgekommen bin nach Frankreich und schreiben wollte, konnte ich nicht mehr schreiben. Andere sind durch das Schreiben wieder zum Leben gekommen. Bei mir war das ganz anders. Das Erlebnis des Lagers, des Todes war unmöglich für mich zu bewältigen. Deshalb habe ich sehr viel später das Buch Schreiben oder Leben geschrieben. Es ist seltsam, aber ich bin tatsächlich hier in Salzburg zum Schriftsteller geworden. 1964 erhielt ich hier den "Prix Formentor", nachdem ich das erste Buch Die große Reise geschrieben hatte. Endlich konnte ich wieder schreiben über Buchenwald. Mit dieser Anerkennung ist eigentlich erst der Schriftsteller entstanden. Früher war er ein anonymer und illegaler Politiker, der vielleicht glaubte, dass er nie schreiben würde. Ich bin mit 40 Jahren, also sehr spät, Schriftsteller geworden. Das war ein Zurückkommen zu meiner wirklichen Berufung.

Die Furche: Wie ist es zum ersten Buch dann gekommen?

Semprún: Als ich 1945/46 in Frankreich war, wollte ich anfangen, ein Buch über Buchenwald zu schreiben - aber nicht nur ein Zeugnis, sondern literarisch elaboriert. Aber das war unmöglich. Zum Schreiben musste ich im Gedächtnis des Todes bleiben, das konnte ich nicht. Deshalb habe ich das Schreiben aufgegeben. Als Politiker ist man immer in der Zukunft, die Vergangenheit wird vergessen und wird leichter zu bewältigen. Als ich im Verlauf meiner Diskussionen mit der Kommunistischen Partei Spaniens all diese Zukunftsillusionen der Politik verloren habe, ist die Möglichkeit zum Schreiben zurückgekommen. Die große Reise habe ich geschrieben genau in dem Moment, in dem ich, nein, in dem mich die Politik verlassen hat. Ich glaubte, wenn ich das Buch geschrieben haben würde, dass ich mit den Erfahrungen im Lager fertig sei. Ein Buch und fertig! Ich habe vier und fünf Bücher geschrieben, es ging immer weiter, und wenn ich Zeit hätte, könnte ich noch fünf Bücher darüber schreiben.

Die Furche: Aber das Schreiben veränderte sich, indem Sie zunehmend Abstand zu den Ereignissen gewonnen haben.

Semprún: Ich kann jetzt mit größerer Gelassenheit vorgehen. Eines meiner nächsten Bücher wird nicht die Lagererfahrung zum Thema haben, sondern eines über Lebenserfahrungen sein. Ein langes Kapitel wird auch mit dem Lager zu tun haben. Ich habe ja nur überlebt, weil ein deutscher Kommunist, den ich nie gekannt habe, in die Liste neben meinen Namen "Stukkateur" und nicht "Student" eingetragen hat. Als Stukkateur galt ich als Facharbeiter und wurde nicht weiter deportiert, konnte in Buchenwald bleiben. Eine amerikanische Wissenschafterin hat sich angeschaut, wie ich diese Episode in meinen Büchern viermal erzählt habe, und viermal ist sie etwas anders beschrieben. Ich könnte es noch viermal schreiben, und es wäre wieder etwas anders.

Die Furche: Auch der Autor verändert sich?

Semprún: Wenn ich meine frühen Bücher wieder lese, bin ich erstaunt: Das war ich? Ich bin auch ungeduldig. Das war nicht genauso, das muss ich wieder schreiben - eine unendliche Arbeit.

Die Furche: Wir nehmen Ihre Bücher nicht nur als Literatur wahr, sondern auch als Geschichtsschreibung. Was halten Sie von Historikern, die mit dem Anspruch antreten, objektiv zu sein?

Semprún: Ich habe nie etwas über die Erfahrungen des Lagers geschrieben, was ich nicht persönlich gesehen oder gefühlt habe oder was ich von einem echten Zeugen gehört habe. Das ist wichtig, weil die Revisionisten sonst in Büchern eine Einzelheit finden, die nicht stimmt, und damit alles in Frage stellen. Bei mir ist das nicht möglich. Ich habe nie etwas geschrieben, was nicht überprüfbar ist. Aber in die Wahrheit habe ich auch Erfindungen eingebaut: Ich habe die große Reise nach Buchenwald gemacht. Als ich die Reise wieder machte, indem ich das Buch schrieb, brauchte ich jemanden, um mit ihm zu sprechen. So habe ich eine Person ins Buch hinein erfunden. Aber die Wahrheit ist deshalb nicht verloren gegangen. Ich kann also etwas erfinden, um die Wahrheit besser zu begreifen.

Die Furche: Viele der NS-Opfer wollten mit Deutschland oder Österreich nie mehr etwas zu tun haben. Sie haben kein Problem damit?

Semprún: Nein. Ich habe nie die deutsche Sprache, die deutsche Kultur mit dem Nationalsozialismus verwechselt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wenn man in Buchenwald die SS-Scharführer hörte, sprachen sie deutsch? Für mich nicht! Sie sprachen nicht deutsch, das war etwas anderes, eine Sprache der Gewalt und des Todes. Sie brüllten etwas, das war leicht zu verstehen, "Los!" oder so etwas - für mich war das nicht deutsch. Deutsch war die Sprache einiger weniger Häftlinge, die noch nicht verrückt geworden waren. Gedichte von Brecht habe ich in Buchenwald von einem alten deutschen Kommunisten gehört. Natürlich ist die Schuldfrage ein Problem, aber ich konnte nach Deutschland zurück. Was mir wirklich schwer fiel, war nach Buchenwald zu kommen in den achtziger Jahren und zu hören, dass Buchenwald ein Speziallager der sowjetischen Polizei in der Besatzungszone Deutschlands war. Buchenwald wurde als Lager im Juni 1945 aufgelöst, und im September wurde es schon wieder als Lager geöffnet.

Die Furche: Wir kennen viel von der Geschichte des Jorge Semprún aus seinen Büchern. Aber weit gehend unbekannt ist uns die Kindheit und frühe Jugend, die Herkunft aus den großbürgerlichen Verhältnissen.

Semprún: Jetzt schreibe ich ein Buch über die Jugend, über die Erfahrungen im Widerstand in Frankreich; dann auch über die Erfahrung des Lagers. Aber es geht nicht wieder darum, Buchenwald zu beschreiben. Es geht um das Problem des moralischen Widerstands. Buchenwald war ein besonderes Lager, wo die politischen Häftlinge die innere Macht hatten. Buchenwald wurde 1937 geöffnet, und die kommunistischen und sozialdemokratischen Kader wurden hier eingeliefert. Sie übernahmen die innere Macht. Warum? Es waren zehntausend Menschen da, es gab eine Verwaltung, eine Küche, Handwerker, die Häftlinge mussten das alles selbst organisieren. Entscheidend war: Es musste funktionieren, das war nötig für die SS-Leute. Diese äußere Disziplin wurde zum Widerstand benutzt. Das ist das Problem: Man muss die Maschine zum Laufen bringen, um die Maschine zu zerstören.

Das haben die deutschen Kommunisten ziemlich gut gemacht. Persönlich allerdings waren viele von ihnen korrupt. Aber perfekt war die Struktur. Mit dem moralisch begründeten Projekt des Widerstands hatte man Recht. Es gab eine Liste der Transporte. Konnte man Menschen davor bewahren? Dann kam die Entdeckung der jüdischen Frage dazu. Die Ausgrenzung mit dem gelben Stern kannte ich schon aus dem Vichy-Regime in Frankreich. Aber von der Endlösung, der Vernichtung wussten wir nichts. Darüber habe ich in Buchenwald erfahren. Im Jänner 1945 haben wir Zehntausende Juden aus Auschwitz bekommen, und da haben wir erst gehört, was tatsächlich los ist. Ich als Philosophie-Student war darauf nicht vorbereitet, nicht Hegel, nicht Kant konnten mich psychologisch, philosophisch und moralisch darauf vorbereiten. Die Erzählung kreist um solche Fragen.

Das Gespräch führte Anton Thuswaldner.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung