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Die Liste der Anti-Antiautoritäts-Streitschriften ist um zwei Bücher reicher. Über orientierungslose Eltern, grenzenlose Kinder und streitende Experten.

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Die Liste der Anti-Antiautoritäts-Streitschriften ist um zwei Bücher reicher. Über orientierungslose Eltern, grenzenlose Kinder und streitende Experten.

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Kleinkinder außer Rand und Band, zappelige Zehnjährige, für die Respekt ein Fremdwort ist - und Eltern, die ihre Kinder gleichzeitig vergöttern, verzärteln und überfordern: Wer den Bestsellern der letzten Jahre glaubt, macht sich über den Zustand der Jungen keine Illusionen mehr. Das Grundübel, so der Tenor, ist dabei das Ende der elterlichen Richtlinienkompetenz, vulgo Autorität. "Der Erziehung ist vor Jahrzehnten das Fundament weggebrochen: Die Anerkennung von Autorität und Disziplin", klagte etwa Bernhard Bueb, ehemaliger Leiter der Internatsschule "Schloss Salem", 2008 in seiner Streitschrift "Lob der Disziplin". Im selben Jahr erklärte der Bonner Psychiater Michael Winterhoff, "Warum unsere Kinder Tyrannen werden" - und ortete das Grundübel ebenfalls in einem partnerschaftlichen Eltern-Kind-Konzept. "Wenn die Ideologie von Kindern als ,Partnern' nicht beendet wird, werden Kinder und Erwachsene krank und sich gegenseitig hassen", prophezeite er.

"Hilflos, mutlos, ratlos"

Nun, sieben Jahre später, ist das beliebte Genre der Anti-Antiautoritäts-Literatur um zwei Neuerscheinungen reicher geworden. Die erste stammt vom Grazer Erziehungswissenschafter Kurt Gallé, der mit seinem "Erziehungsalarm" gerade die Bestsellerlisten stürmt. "Hilflos, mutlos und ratlos" sei der aktuelle Erziehungstrend, klagt der ehemalige Lehrer, der zuletzt Human- und Erziehungswissenschaften an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Graz gelehrt hat; Kinder und Jugendliche würden heute in einem "Meer der Beliebigkeiten" schwimmen. Zusammen mit einem "ungesunden" Materialismus und den Auswüchsen der Unterhaltungsindustrie sei diese Orientierungslosigkeit laut Gallé der Nährboden für sechs fatale "D"s: Desinteresse, Destruktion, Desorganisation, Desorientiertheit, Delinquenz und Desintegration. Kein allzu optimistisches Porträt der jungen "Generation D".

Doch ist dieser massive Kulturpessimismus tatsächlich begründet? Diverse Jugendwertestudien - oder auch der Ökonom Christian Scholz, der der neuen "Generation Z" immerhin mehr Interesse an Nachhaltigkeit und sozialer Fairness bescheinigt - zeichnen ein freundlicheres Bild. Gallé hingegen schildert ernüchternde, persönliche Beobachtungen: Jugendliche, die auf dem Boden Liegende noch weiter treten; "digital autistische" Gymnasiasten, die sich beim Ausflug in die Trauttmansdorffer Gärten lieber mit ihren Smartphones statt mit der örtlichen Flora beschäftigen; oder Mütter, die sich ihrem Handy mehr verbunden fühlen als ihrem Kind. Nicht fehlen darf auch der Hinweis auf jene "Helikoptereltern", bei denen sich überzogene Fürsorge paranoiderweise mit den Bestrebungen paart, "das Kind als Statussymbol zu generieren". Auch auf die steigende Anzahl "diagnoseetikettierter Kinder" mit ADHS verweist Gallé.

Als Heilmittel für all diese - tatsächlich irritierenden -Zeiterscheinungen betrachtet der Grazer Pädagoge vor allem dreierlei: mehr Fürsorge, Verantwortung und Wertevermittlung - auch in der Schule. Sogar ein eigenes Fach Gesellschafts-und Europakunde schwebt ihm vor, um "wesentliche Grundsätze und Werthaltungen des Miteinanders in unserer Gesellschaft zu lernen". Wie immer das konkret gelingen mag.

"Monströse liberale Erziehung"

Keine konkreten Alternativvorschläge, aber dafür eine noch umfassendere, provokantere und streckenweise durchaus flapsige Auseinandersetzung mit den "monströsen Auswüchsen liberaler Erziehung" liefert der schwedische Psychiater und sechsfache Vater David Eberhard. In seiner soeben auf Deutsch erschienenen Streitschrift "Kinder an der Macht" kritisiert er ähnlich wie Michael Winterhoff die gegenwärtige "kinderfixierte" Kultur, die Eltern infantilisiere sowie Kinder überfordere und zugleich verzärtle: "Heutzutage steht überall geschrieben, wie wir mit unseren Kindern umgehen müssen und sollen", schreibt Eberhard. "Wir müssen die Kinder in den Mittelpunkt stellen. Wir dürfen die Bindung an sie nicht vermasseln. (...) Wir müssen auf sie achten - ihnen Helme aufsetzen und sie überall vor Unbill schützen. Wir dürfen ihnen nicht widersprechen, sie nicht infrage stellen, wenn sie falsche Behauptungen von sich geben, und sie nicht hungrig ins Bett schicken, wenn sie am Abendbrottisch eine Szene gemacht haben."

Als Mitschuldige an dieser Entwicklung hat Eberhard zwei allseits hochgeschätzte Forscherkollegen ausgemacht: John Bowlby, dessen Bindungstheorie nach Eberhard dazu geführt habe, Kinder als verletzlicher anzusehen, als sie tatsächlich seien; und den dänischen Familientherapeuten Jesper Juul, Autor des Klassikers "Dein kompetentes Kind", der Familie zwar nicht als demokratische, sehrwohl aber als "gleichwürdige Gemeinschaft" versteht - und für eine persönliche Sprache plädiert, die anerkennend und wertschätzend, aber nur sparsam "lobend" sein soll, weil sonst die Existenz des Kindes mit seiner Leistung in Zusammenhang gebracht würde.

Moralische Zeigefinger

"Das Problem mit den Experten ist der moralische Zeigefinger", meinte Eberhard unlängst in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit mit Blick auf Jesper Juul. Er selbst habe erst während der Arbeit an seinem Buch "Kinder an der Macht" begonnen, Erziehungsratgeber zu lesen, wie er am Ende seines Opus freimütig gesteht. "Jetzt habe ich mehr oder weniger alles gelesen. Und ich bin nicht schlauer geworden."

Vielleicht sollte er es noch einmal bei Wolfgang Bergmann probieren. Der 2011 verstorbene Hannoveraner Kinderpsychologe hat 2008 in seinem Buch "Gute Autorität. Grundsätze einer zeitgemäßen Erziehung" - mit leiser Kritik an Jan-Uwe Rogges Klassiker "Kinder brauchen Grenzen" - Folgendes geschrieben: "Kinder brauchen keine Grenzen an sich, sie brauchen auch keine Autorität an sich, sie benötigen freilich Leitung und Lenkung durch Autorität, um zu sozialen, einfühlenden und zur Selbstreflexion begabten Menschen zu werden."

Zumindest darauf sollten sich Erziehungsexperten, Eltern und Lehrende in Zeiten wie diesen einigen können.

Erziehungsalarm

Weckruf für Eltern und Bildungsverantwortliche. Von Kurt Gallé. Braumüller 2015, 114 S. geb., € 21,90

Kinder an der Macht

Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung

Von David Eberhard.

Kösel 2015

304 Seiten, geb., € 18,50

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