Suche nach altem Heilwissen

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Der Theologe und Mittelalterforscher Karl-Heinz Steinmetz hat sich der Traditionellen Europäischen Medizin (TEM) verschrieben. Er sucht nach verschüttetem Aberwissen und will dieses für heute fruchtbar machen.

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Der Theologe und Mittelalterforscher Karl-Heinz Steinmetz hat sich der Traditionellen Europäischen Medizin (TEM) verschrieben. Er sucht nach verschüttetem Aberwissen und will dieses für heute fruchtbar machen.

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In nur drei Sekunden kann er sich vom Stehen ins Liegen und dann wieder zurück transferieren, sagt Karl-Heinz Steinmetz, habilitierter Theologe und Mittelalterforscher, und führt dem Besucher das auch gleich praktisch vor: In großer Schnelligkeit begibt er sich in die Prostratio, die liturgische Haltung der "Niederwerfung" und steht dann ebenso flink wieder aufrecht. Eine Übung, die er beim Lesen alter, oft in Klosterbibliotheken aufbewahrter Texte aus dem Mittelalter oder der Renaissance-Zeit entdeckt hat, und die auch 50 Mal hintereinander durchgeführt werden kann.

Diese aus der religiösen Praxis stammende Körperübung ist Teil der "Herz-Meditation", die Steinmetz aus seinem Studium des alten europäischen Heilwissens heraus entwickelt hat. "Die Religiosität in der Spätantike und im Mittelalter war viel 'leibhaftiger' als heute", sagt er. Von daher sind Methoden, die auf derartigem "fruchtbaren Aberwissen" fußen, anders als heutige therapeutische Konzepte, in denen "nur geredet" wird. Steinmetz subsumiert das, was ihm da aus den alten Schriften entgegenkommt, unter "Traditioneller Europäischer Medizin"(TEM), ein mittlerweile etablierter Terminus, der an TCM anklingt, die Traditionelle Chinesische Medizin, die seit einigen Jahrzehnten in Europa en vogue und zumindest als Ergänzung zur Schulmedizin anerkannt ist.

Heilweisen wie Schröpfen, Kautern

Das Beispiel der Herz-Meditation zeigt auch, dass es längst viele Berührungspunkte zu den asiatischen Wellness-Moden wie TCM, Ayurveda, Yoga oder die Zen-Meditation gibt. Aber Steinmetz will nachweisen, dass es eben auch ein genuin europäisches Heilwissen gibt, das durch die Jahrhunderte tradiert wurde und oft erst in den allerletzten Generationen verschütt ging. Gemeinsam mit dem Musikwissenschafter und Cembalo- und Orgelbauer Maurizio Cavagnini hat er in Wien vor einigen Jahren die Organisation ArcAnime gegründet, die Angebote im Bereich Ganzheitsmedizin, Wellness und Spiritualität auf der Basis der TEM entwickelt. Die Methode hält bereits Einzug in den Kurbetrieb - etwa im Kurzentrum Bad Kreuzen/OÖ der Marienschwestern, das sich sogar "1. Zentrum für Traditionelle Europäische Medizin" nennt.

ArcAnime bietet dafür beispielsweise eine "TEM-Reflexologie" an, die auf den ersten Blick den asiatischen Verwandten nicht unähnlich ist. Diese arbeitet da mit Schröpfköpfen oder Kautern, gebogenen Metallstäben, die auf etwa 70 Grad erhitzt und dann auf Reflexzonen beim Menschen appliziert werden. Auch diese Methoden hat Steinmetz bei seinen Studien mittelalterlicher Handschriften gefunden, wo er überraschende Entdeckungen gemacht hat. So fand er - entgegen der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema - auch Massagetechniken beschrieben, darunter Organmassagen, die er als Vorläufer der heute praktizierten Osteopathie sieht.

Steinmetz will solches Aberwissen, diese verschütteten Kenntnisse für den heutigen Menschen nutzbar machen. Dabei ist ihm ein Anliegen, keinen Gegensatz zwischen Schulmedizin und "traditionellen" Methoden aufzubauen. Er selber sitzt mit Medizinern im Vorstand der Wiener Akademie für Ganzheitsmedizin, in der es um die Integration schulmedizinischer und "alternativer" Methoden geht.

Wie steht es aber mit der wissenschaftlichen Akzeptanz der Traditionellen Europäischen Medizin? Steinmetz betont, dass er als habilitierter Humanwissenschafter sehr wohl für die Objektivierbarkeit der traditionellen Methoden optiert: Auch die TEM stehe da nicht außerhalb, sie müsse genauso verifizierbar und falsifizierbar wie die schulmedizinische Methodik sein.

Aber ist es nicht ein Problem, wenn traditionelle Methoden mit den naturwissenschaftlichen Modellen, auf denen die moderne Medizin beruht, nicht kompatibel sind? Die Lehre von den Körpersäften des spätantiken Arztes Galen scheint ja mit der modernen Physiologie nicht vereinbar. Was kann dann eine Lehre, die auf den Überlegungen Galens beruht, heute noch für eine Bedeutung haben?

Von den vier Temperamenten

Steinmetz spricht der derartigen "Humoralmedizin" nicht ihre Berechtigung ab, selbst wenn sie mit modernen Vorstellungen der Körpervorgänge nicht vereinbar ist. Auch die da vorfindliche Einteilung der Menschen nach vier Temperamenten sei solch ein durch Jahrhunderte tradiertes Wissen, das bis heute von Bedeutung sein kann.

Als Beispiel dafür führt Steinmetz an, dass die Humoralmedizin vier verschiedene Arten von Bronchitis kenne - je nach Temperament eine sanguinische, eine melancholische, eine cholerische, die sich durch trockenen Reizhusten auszeichne, oder eine phlegmatische, die zähen Schleim (griechisch: phlegma) produziere. Im Mittelalter habe es für diese vier unterschiedlichen Arten der Bronchitis völlig unterschiedliche Heilkräuter gegeben. Heute hingegen verschreiben Ärzte ihren Patienten unabhängig davon oft ein und dasselbe Hustenmedikament.

Steinmetz führt viele analoge Beispiele an und vergisst nicht hinzuzufügen, dass auch die TEM wesentlich von einem intensiven Austausch zwischen Therapeuten und Patienten lebt, ein weiterer Vorteil gegenüber der Schulmedizin, die sich ja oft dem Vorwurf gegenübersieht, auf den Einzelnen kaum individuell eingehen zu können, weil etwa das Gespräch zwischen Arzt und Patienten viel zu kurz kommt.

Eine säkularisierte Spiritualität?

Bleibt die Frage, ob die Traditionelle Europäische Medizin auch ohne ihren ursprünglichen, oft religiösen Kontext auskommen kann. Ähnlich sollte ja auch den fernöstlichen Methoden gegenüber gefragt werden: Sind Yoga, Ayurveda, TCM oder auch Zen ohne die entsprechenden religiösen Voraussetzungen und Implikationen denkbar und anwendbar? Karl-Heinz Steinmetz meint: Ja, und argumentiert: Es habe im Jerusalemer Tempel den "Vorhof der Völker" gegeben, wo sich auch Nichtjuden aufhalten konnten. Als derartigen "Vorhof" sieht er auch religiöse Methoden an, die von Nichtreligiösen "besucht" werden können.

Er bringt dies etwa in Bezug auf die eingangs erwähnte Herz-Meditation auf den Punkt, die er für Menschen mit Burnout oder allgemeiner: für alle, die ihre innere Balance suchen, anbietet. Natürlich gebe es da Minimalanforderungen: Menschen, die sich auf die Herz-Meditation einlassen, müssten offen für Transzendenz sein sowie einen positiven Zugang zur Person Jesu entwickeln können (nicht zu den Glaubenssätzen über ihn, aber zu ihm als religiöse Gestalt); und last not least müssten sie ernsthaft zu (Körper-)Übungen bereit sein.

Die aus dem alten Wissen entwickelte Traditionelle Europäische Medizin geht, so Karl-Heinz Steinmetz, über das rein Medizinische weit hinaus. Analog zu den angesprochenen Gesundheitstechniken gibt es eine breit gefächerte Diätetik, die auf ähnlichen Überlegungen beruht. Was bis vor kurzem auch hierzulande unter dem Titel "Hausmittel" allgemein bekannt war, soll durch TEM wieder ins Gedächtnis geholt werden.

Letztlich umfasst dies den ganzen menschlichen Lebensstil: Hier erreicht, sagt Steinmetz, das alte Wissen eine neue religiöse wie politische Dimension: Man könne dann nicht mehr wie heute Ressourcen verschwenden und ohne Bezug zu Natur und anderen Menschen oder Ökosystemen leben. Von daher ist, so Steinmetz' Überzeugung, die Traditionelle Europäische Medizin eminent politisch.

Und warum setzt er da auf die europäische Tradition? Steinmetz versichert, er habe nichts gegen TCM oder andere asiatische Methoden: Aber er sei nun einmal Europäer und habe sich auch wissenschaftlich mit dem antiken oder mittelalterlichen Wissen Europas beschäftigt. Dabei ist er auf Schätze gestoßen, die er seiner Mitwelt nicht vorenthalten will. Die von ihm mitbegründete Organisation ArcAnime hat die Arche zum Symbol gewählt, jenes biblische Schiff, auf dem Noach sich und die Seinen sowie die Tierwelt vor dem Untergang durch die große Flut bewahrte: "Es geht darum", sagt Karl-Heinz Steinmetz, "das Beste aus diesem untergehenden Kontinent zu retten und für morgen fruchtbar zu machen." Auch er will nicht im Mittelalter leben. Aber dessen Wissensschatz soll gehoben und neu mit Leben erfüllt werden.

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