Suche nach dem Flüchtigen

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Patrick Modiano interessiert sich vor allem für dunkle und geheimnisvolle Figuren und Dinge. Am 28. Juli erhält der Autor den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.

"Ich bin ein Hund, der so tut, als habe er einen Stammbaum“, erzählt Patrick Modiano in "Ein Stammbaum“ seine Kindheit und Jugend: "Ich wurde am 30. Juli 1945 geboren, in Boulogne-Billancourt, Allée Marguerite Nr. 11, als Kind eines Juden und einer Flämin, die sich im Paris der Okkupationszeit kennengelernt hatten. Ich schreibe Jude, ohne zu wissen, was das Wort für meinen Vater wirklich bedeutete, und weil es damals in den Personalausweisen vermerkt war. Bewegte Zeiten führen oft riskante Begegnungen herbei, so dass ich mich niemals als legitimer Sohn gefühlt habe und noch weniger als Erbe.“

"Un pedigree“, einen Abstammungsnachweis also schreibt der Autor und was dabei zum Vorschein kommt, sind harte Fakten einer einsamen Kindheit. Die Eltern bald getrennt, die Mutter als Schauspielerin unterwegs, der Vater mit zwielichtigen Geschäften beschäftigt, das Kind in diverse Internate abgeschoben. Der zwei Jahre jüngere Bruder stirbt, als Patrick zwölf Jahre alt ist: "Abgesehen von meinem Bruder Rudy, seinem Tod, betrifft mich, glaube ich, nichts wirklich von allem, was ich hier erzähle.“

Auf dem Mist jener Besatzungsjahre

Patrick Modiano, 1945 geboren, sieht als Dreizehnjähriger mit seinem Vater einen Dokumentarfilm über die Nürnberger Prozesse - und da verändert sich etwas. Aber mit dem Vater, den er bald ganz aus den Augen verlieren wird, spricht er nicht darüber: damals nicht und später nicht. Doch die Zeit, in der sein Vater gedemütigt und verfolgt wurde, beginnt ihn zu beschäftigen. "Meine Existenz ist auf dem Mist jener Besatzungsjahre gewachsen“, meinte er in einem Interview.

In diesen Mist der Besatzungsjahre, in die Ungeheuerlichkeiten jener Zeit taucht er mit seinem Romanerstling "Place de l’Étoile“ ganz tief ein. Vorangegangen waren dem Roman Lektüren antisemitischer Literatur, die Modiano in der Bibliothek seines Vaters gefunden hatte, "wahrscheinlich, weil er zu verstehen suchte, was diese Leute ihm vorwarfen“. Modiano wollte "ihnen, auf dem Gebiet der französischen Prosa, ein für alle Mal den Mund stopfen“. Dazu gehörten etwa Lucien Rebatet und Louis-Ferdinand Céline. Aus den unerhörtesten antisemitischen Klischees mixte der 22-jährige Modiano seinen anspielungsreichen Roman, der - obwohl der damalige Lektor im renommierten Verlagshaus Gallimard, Raymond Queneau, begeistert war - erst ein Jahr später erscheinen durfte: Denn gerade war der Sechstagekrieg in Israel zu Ende gegangen - und weil Modianos Roman auch böse Attacken gegen Israel aufwies, erschien die Buchveröffentlichung nicht opportun. 1968 aber zog Modianos Debüt auch den eigenen Landsleuten (vor allem den kollaborierenden Schriftstellern und Journalisten) im De-Gaulle-Frankreich die Maske herunter. Manche hatten es gerne als Land der Resistance verstanden, Modiano zeigte es nun bitterböse auch als Land der Kollaborateure. Ein Tabubruch nach dem anderen sorgte dafür, dass Modiano selbst später einige Passagen veränderte, weil sie ihm zu grob erschienen - und auf Deutsch zu lesen war der Roman überhaupt erst 2010.

Der Titel führt in den Mittelpunkt der "Hauptstadt der Schmerzen“: "Place l’Étoile“ bezeichnet nicht nur den berühmten Platz in Paris, sondern verweist auch auf den Stern auf der Brust: "Im Juni 1943 tritt ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: ‚Pardon, monsieur, où se trouve la Place de l’Étoile?‘ Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.“

In diesem provokanten Roman pointiert Modiano die Definierung und Ausgrenzung des 20. Jahrhunderts schlechthin. Die Frage nach der jüdischen Identität treibt er dabei auf die Spitze, wenn er aus seiner Hauptfigur, den jüdischen Raphaël Schlemilovitch (Chamissos Peter Schlemihl lässt ebenso grüßen wie der unglückliche Schlemiel) den "Ewigen Juden“ macht, der alle Klischees erfüllt und sogar noch zum Geliebten der Eva Braun mutiert.

Geschichten von Verschwundenen

Über 20 Romane hat Modiano geschrieben, mancher, etwa "Die Kleine Bijou“, wurde von Peter Handke übersetzt. Für "Dora Bruder“ recherchierte Modiano den Fall eines fünfzehnjährigen jüdischen Mädchens, das 1941 untertauchte, dann aber doch nach Auschwitz deportiert wurde - Modianos Fiktion gibt einer Verschwundenen Geschichte.

"Ich habe nichts zu bekennen, nichts zu erhellen, und ich verspüre keinerlei Neigung zu Introspektion und Gewissenserforschung. Im Gegenteil, je dunkler und geheimnisvoller die Dinge blieben, desto mehr haben sie mich immer interessiert“, schrieb Modiano in "Ein Stammbaum“ und konterkarierte damit anderswo übliche autobiografische Entdeckungsreisen.

Rätselhaft bleiben auch Modianos Figuren. In seinem jüngst auf Deutsch erschienenen schmalen Roman "Im Café der verlorenen Jugend“ setzt ein Mann einen Detektiv auf seine verschwundene Ehefrau an, dieser findet sie zwar, lässt sie aber in Ruhe: Weil er erkennt, dass sie nur im Verschwinden sie selbst ist.

Es ist die Schwebe, das Rätselhafte, die Sehnsucht, von der Literatur wohl immer auch lebt. Modiano, sagt man, schreibe immer an denselben Motiven. Und über dieselbe Stadt: Paris, mit konkret benannten Straßen und Plätzen. Allerdings interessieren Modiano jene Orte in der Großstadt Paris, wo man sich anonym bewegen kann, wo man nicht definiert wird, wo man keine Vergangenheit hat, wo auch vermisste Menschen leben können. "Es gab in Paris Zwischenzonen, so etwas wie ein no man’s land, wo man am Rand von allem und jedem war, auf Durchreise oder sogar in der Schwebe. Man genoss eine gewisse Immunität.“ Wenn Schriftsteller Roland in "Im Café der verlorenen Jugend“ seinen Text über "neutrale Zonen“ schreibt, so kann man dahinter vielleicht auch ein Schreibprinzip Modianos erkennen, denn in konkret benannten Plätzen werden Zwischenzonen und damit auch kurz die Menschen in ihnen sichtbar.

"Im Café der verlorenen Jugend“ kommt dem Café Condé eine diesbezüglich wichtige Rolle zu. In diesem Zwischenreich kennt man das Vorleben der anderen nicht. Die Alten versuchen, jenen aus dem Weg zu gehen, die von ihrer Vergangenheit wissen. Die Jungen haben ihre eigenen Gründe, der Vergangenheit auszuweichen: Diese lastet - meist unausgesprochen - schwer auf der Seele.

Im Cafe Condé listet ein gewisser Bowing die (falschen) Namen auf, um "all die Schmetterlinge, die für ein paar Augenblicke um eine Lampe schwirren, vor dem Vergessen zu bewahren. Er träume, sagte er, von einem riesigen Register, in dem die Namen der Gäste aller Pariser Cafés seit hundert Jahren verzeichnet wären, samt Angabe ihres Eintreffens und ihres Weggehens. Er war besessen von etwas, das er ‚Fixpunkte‘ nannte.“ Hier kämpft einer den vergeblichen Kampf gegen die Windmühlen der Anonymität der Großstadt. Loukis Mann führt ihn auf seine Weise: Er heiratet, um Bindungen zu schaffen. Der Versuch "ungewisse Zukunftsbekanntschaften zu festigen“ scheitert, denn eines Tages verschwindet Louki: "Ich war nur dann wirklich ich selbst, wenn ich ausriss.“

Aufbruch ins Offene

Modiano ist ein Autor auf der Suche nach der verlorenen Zeit und steht nicht zuletzt im Aufgreifen der Bedeutung der Dinge, Namen und Orte in der Tradition von Marcel Proust. Seine melancholischen Verlustgeschichten fragen nach Identität und Gedächtnis: "Ich bin ein nichts“ heißt es gleich zu Beginn des 1978 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Romans "Die Gasse der dunklen Läden“, in dem einer sich zu erinnern versucht, wer er ist. Welches ist sein Leben, in welches ist er geschlüpft?

Modiano blickt in die Vergangenheit, er sucht das Flüchtige und hält es für ein paar Augenblicke, für ein paar Sätze, für ein paar Seiten fest. Auch jenes Bild, das er verwendete, um den Aufbruch zu beschreiben, den er erlebte, als sein erstes Buch erschien, verweist ins Offene: "Ich war in See gestochen, bevor der morsche Anlegesteg zusammenbrach. Es war höchste Zeit.“

Place de l’Étoile

Roman von Patrick Modiano. Aus dem Franz. von Elisabeth Edl. Hanser 2010. 189 S., geb. € 18,40,

Im Café der verlorenen Jugend

Roman von Patrick Modiano. Aus dem Franz. von Elisabeth Edl. Hanser 2012. 157 S., geb., € 17,40

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