Surrealismus, wörtlich übersetzt

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Man Rays Fotografie „Le violon d’Ingres“ von 1924 auf dem Vorhang verrät viel. Die 1920er Jahre gaben der Bohème reichlich Raum – ihrer provokanten Traumwelt, die mit den Werten der Bourgeoisie brach, ihren gelebten Metaphern, ihrem Aufruhr, ihrer Produktivität. In Paris feierten die Künstler den Surrealismus, und am Innsbrucker Rennweg wird das präzise übersetzt: über allem Realismus.

Also liegen Bühnenbildner Pierre Wyss und Bühnengestalter Helfried Lauckner die Mansarden von Paris nicht hoch genug, und überm Realismus liegen nur noch die Wolken. Dort leben der Dichter, der Maler, der Musiker und der Philosoph. Ihre Kunst und ihr Hunger sind alles, was sie haben. Durch ihre surreale Brille gesehen, hängt eine Tür in den Angeln, weiße Möbelstücke kippen in die Wolke. Mimis Sterbelager muss auf dem Boden bereitet werden. Ästhetik und Poesie des Surrealismus passen in den Phantasieraum und zu Puccinis dort platzierter Musik. Mehrfach nützen die Freunde die Gelegenheit, besitzende Bürger zu düpieren, und wenn der frierende Dichter sein Manuskript in den Ofen schiebt, ist auch die Forderung jener Künstler nach der Befreiung der Wörter erfüllt.

Unter der Wolke stehen die Tische des Café Momus, es ist Weihnachten, Geschenke hängen am Himmel. Da drängen sich die Chöre und Solisten, Rodolfo hat seine Mimi gefunden, sie waren darauf vorbereitet und leben eine weltabgewandte Liebe. Aber Mimi ist todkrank, und als Musetta im Café ihre Show abzieht, ist klar: Die Realität holt die jungen Männer ein.

Sascha Götzel am Pult des Tiroler Symphonieorchesters hat fern pastoser Sentimentalität einen eigenen Ton für „La Bohème“, zaubert mit zartesten Valeurs französisches Flair, schildert mit rhythmischem, dynamischem Zugriff und geschärfter Intervallik aber auch die Unerbittlichkeit des Künstlerlebens und die Existenznot jener Zeit hinter dem Versuch, Weihnachten zu feiern – zumindest mit den Kindern. Mimi und Rudolf gehört die abgezirkelte Welt impressionistischer Kammermusik. Das Orchester zeigte in jeder Phase, wie gern es mit Goetzel arbeitet.

Viktoria Loukianetz ließ anfangs hören, dass sie größere Häuser gewohnt ist, goss ihre innigen Empfindungen aber bald in Mimis Melodien. Alex Vicens überraschte mit herrlichen tenoralen Qualitäten und agierte als Rodolfo sicher und intelligent. Gérard Kims Marcello hat Stil und Sébastian Soules Schaunard Übermut. Marc Kugels Colline ließ in der Mantelarie die Zeit stillstehen. Stimmlich groß und berückend die Musetta von Jennifer Chamandy.

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