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Für einen Umgang mit Gedächtnisorten, der Mehrfachidentitäten möglich macht.

In letzter Zeit wurde in Österreich wieder einmal über den Heldenplatz gestritten. Das ist angesichts der Geschichte dieses Platzes keine überraschende Entwicklung; überraschend ist, dass zum ersten Mal ganz klar wird, dass Österreich sich einem internationalen Trend zu mehr symbolischer Politik nicht entziehen kann: Öffentliche Räume bekommen symbolisch und real eine derart große Bedeutung für politische Prozesse, wie dies seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr der Fall war.

International ist diese Entwicklung seit Jahren zu beobachten. Ich denke etwa an Auseinandersetzungen darüber, ob Straßenzüge in Belfast real und hinsichtlich der Symbolkraft Katholiken oder Protestanten gehören. Im Nahen Osten hat letztlich der Besuch von Premierminister Sharon in Ostjerusalem - einem Ort mit hoher symbolischer Bedeutung auch für Nichtjuden - eine veritable Weltkrise ausgelöst.

Auch in Österreich gab es bereits Anzeichen für einen neuartigen Kampf um öffentliche Räume, die aber nicht so interpretiert wurden, weil unsere Diskussionen über zivilgesellschaftliche Entwicklungen sich nur mit den Fragen beschäftigt haben, ob es darum geht, linken Widerstand gegen rechte Politik zu machen oder vielleicht mehr Wohltätigkeitsvereine und ehrenamtliche Arbeit zur Erneuerung einer müde gewordenen Gesellschaft einzusetzen. Tatsächlich gab es in Österreich schon Anzeichen für Kämpfe um die moralische Lufthoheit über reale Räume. Zu erinnern ist an die Diskussion über das Denkmal am Judenplatz in Wien und über ein Haus der Geschichte im Palais Epstein, wo es immer um reale und imaginäre Räume ging, über die man Definitionsmacht erreichen wollte. Der Grund dafür besteht darin, dass in einer historischen Situation, wo ganz offensichtlich bisher völlig akzeptierte demokratische Entwicklungen wieder grundsätzlich diskutiert werden, Räume als Erinnerungsorte wichtig werden.

Verstärkt wird dies von einer Situation, in der Politik nicht mehr nur von Institutionen und traditionellen Parteien gemacht wird, sondern auch von "alten" und neuen zivilgesellschaftlichen Interessensgruppierungen. Das bedeutet, dass die Zivilgesellschaft symbolische und reale Räume wieder politikfähig macht. Das kann man am Beispiel der Auseinandersetzungen darum, wer am Heldenplatz in Wien demonstrieren darf, sehr schön nachverfolgen. Ein derartiger öffentlicher Raum mit hoher Symbolbedeutung zeigt, dass es heute nicht allein darum geht, ob auf einem Platz linke oder rechte Demonstrationen zulässig sind und wer moralisch dafür die größere Legitimierung hat, sondern dass zu diskutieren ist: Wo liegen die Grenzen der Freiheit auch im gemeinsamen öffentlichen Raum, wie definiere ich diese Grenzen in einer Zivilgesellschaft, wo vieles an Normen neu im Entstehen ist und auch formuliert werden muss. Es zeigt sich, dass die Diskussion der Zivilgesellschaft der letzten Jahre in Österreich geführt wurde, um zu sagen: Zivilgesellschaft ist die Selbstorganisation der Guten. Das ist eine Entwicklung, die weder internationalen Trends entspricht noch hilfreich ist, wenn es darum geht, neue Motivation in eine Gesellschaft durch zivilgesellschaftliches Handeln zu bringen. Zur Zivilgesellschaft gehört das Herstellen von Handlungs- und Freiräumen, aber nicht das moralische Urteil darüber, welche Organisationen diese Freiräume wie für sich in Anspruch nehmen können.

Kampf um Räume

Die Frage, die dann politisch zu beantworten ist, lautet: Was will eine Gesellschaft zulassen, wo sind die Grenzen der Freiheit, auch wenn wir die öffentlichen Räume möglichst weit offen halten wollen? Der Kampf um Räume ist immer auch ein Kampf um Legitimität, und auch das Beispiel Heldenplatz zeigt, dass hier versucht wird, einen Raum mit allen seinen historischen Assoziationen und seinem Gedächtnisinhalt zu benützen, um die Glaubwürdigkeit der eigenen politischen Position zu stärken. Letztlich ist dies eine Folge der Veränderungen in Europa seit dem Ende des Eisernen Vorhangs.

Geschichte und Geographie sind wieder politikmächtig geworden und müssen in Rechnung gestellt werden, wenn wir über gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung Stärkung ziviler Strukturen und über die Frage, wie Politik sich organisieren soll, sprechen. Die schwierige Frage lautet: Wie kann man öffentliche Räume möglichst offen halten, aber gleichzeitig die richtigen Grenzen gegenüber Extremismus ziehen?

Offene Räume sichern

Dies ist eine Frage, die von der Zivilgesellschaft allein nicht beantwortet werden kann. Damit ist die Rolle des Staates als Ordnungselement neu und anders wieder gefragt. Er kann sich nicht mehr, wenn es etwa darum geht, Lokalpolitik zu beurteilen, damit begnügen, den Menschen möglichst viel Infrastruktur nach dem Motto "noch ein Schwimmbad, noch ein öffentlicher Kinderspielplatz" zur Verfügung zu stellen. Er muss sich die Frage stellen: Wie kann er offene Räume für ziviles Ausverhandeln, für ziviles Diskutieren sicherstellen.

Noch schwieriger ist der Wandel in der Rolle der Politik und des Staates in der Frage zu beurteilen, dass es bei diesen Räumen ja nicht nur darum geht, was dort stattfinden darf, sondern wie die Grenzen der öffentlichen Räume so gestaltet werden können, dass unterschiedliche Meinungen tatsächlich ausgetauscht werden. Sonst entsteht eine Situation wie bei den April-Demonstrationen am Heldenplatz, dass am Zaun zwischen der Ringstraße und dem Heldenplatz darum gekämpft wurde, wer drinnen und wer draußen ist und damit die Grenze wirklich auf einen Punkt oder auf eine Linie reduziert wird. Die Wissenschaften bezeichnen Grenzen als Übergangsräume zwischen Pluralitäten, als Vermittlungsorte zwischen unterschiedlichen Positionen, die im Idealfall Chancen für einen liberalen Austausch von Meinungen schaffen.

Die Demonstrationen der letzten Wochen waren ein Beispiel dafür, wie Zivilgesellschaft nicht funktionieren kann, wenn nur ein Polizeikordon die eine Meinung von der anderen trennen kann und die Verhinderung von Gewalttätigkeiten schon einen großen Erfolg darstellt.

Wichtig ist, dass man reale und symbolische Räume wirklich zusammendenken muss. Es ist nicht mehr möglich, auf der einen Seite einen wissenschaftlichen Diskurs darüber zu führen, wie Gedächtniskultur und Erinnerungsorte zustande kommen und auf der anderen Seite bei der Frage nach realen Räumen nur nach den Stadtplanern und nach einer Entscheidung zu rufen, ob ein Platz mit Asphalt oder mit Pflastersteinen ausgestaltet wird.

Die reale Bedeutung einer derartigen unter Einschluss der Zivilgesellschaft geführten Diskussion besteht darin, öffentliche Räume als Möglichkeit zu sehen, dass ein Umgang mit Gedächtnisorten möglich ist, der so etwas zulässt wie Mehrfachidentitäten, Pluralität, der den realen Raum aber auch als prozessartig veränderbar versteht.

Diese Diskussionen werden in den Sozialwissenschaften mit dem Begriff des sogenannten "spatial turn", also der Wende zum Denken in symbolischen und realen Räumen, geführt. Lange Zeit zählten Räume in der "Moderne" nicht viel. In fortschrittsorientierten Überzeugungen wurde die Zeit als das Innovative, das Veränderliche, das Fortschrittliche und Interessante gesehen. Auch in der politischen Analyse wurde der Raum als das Statische, Konservative, das was sich nicht verändert und daher nicht so interessant ist, gedeutet. Mit der Kritik an der Moderne ist auch hier ein Paradigmenwechsel eingetreten.

Heute müssen wir, auch wenn wir fragen, wie man politisch auf bestimmte urbane Situationen und Probleme eingeht, wieder den dynamischen Charakter von Räumen berücksichtigen. Das betrifft etwa so große Fragen wie das interethnische Zusammenleben in Großstädten von London bis Los Angeles, wo inzwischen auch die Stadtpolitiker darüber diskutieren, wie es denn gelingen kann, dass es zumindest zwischen den ethnischen Gruppen, die in den großen Agglomerationen meist getrennt siedeln, irgendeine Art der Verständigung und des räumlichen Miteinanders geben kann.

Haus der Geschichte

Es hat sich herausgestellt, dass diese getrennte Lebensweise zu einer Reduzierung der urbanen Möglichkeiten führt - wenn man nur daran denkt, dass man durch London gehen und erleben kann, dass unterschiedliche ethnische Gruppen nur durch einzelne Straßenzüge getrennt leben. Aber diese Trennung ist eine radikale - bis zu dem Punkt, wo man auf der linken Straßenseite nur Einwanderer aus Indien und auf der rechten Straßenseite nur sogenannte weiße Engländer findet.

Für diese Probleme hält die Zivilgesellschaftsdiskussion die Frage bereit: Wie kann man Handlungs- und Freiräume schaffen, die nicht alleine vom Staat vorgegeben werden oder völlig dem Markt zugeordnet werden können, und dennoch der Integration in der Form des Ausverhandeln zwischen Gruppeninteressen dienen. Wo können aber in Österreich die zivilen Handlungs- und Freiräume für Zukunftsfragen sein, wenn selbst die Geschichte nur in den Gegensätzen "Opfer oder Täter" und in den Qualifizierungen eines Bundeskanzlers als "Arbeitermörder oder Erneuerer einer österreichischen Nation" diskutiert wird? In Österreich werden immer noch unverzagt alle wesentlichen historischen Bestandteile der eigenen Identität entweder rot, schwarz oder blau interpretiert.

Stadtluft macht frei

Seit Jahren besteht der politische Konsens, einen öffentlichen Raum für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts zu schaffen. Über den Standort und den Inhalt eines Hauses der österreichischen Geschichte kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber der Versuch, eine Darstellung der österreichischen Geschichte dadurch in ihrer Dynamik zu entschärfen, indem man sich zunächst dem österreichischen Staatsvertrag als einem Ausstellungsthema für das bevorstehende Jubiläum 2005 zuwendet, kann in keinem Fall ausreichen.

Es ist ein Beleg für die neue Bedeutung von Räumen, dass zunächst um den Standort gestritten wurde und dass es Menschen gibt, die für das an den Heldenplatz angrenzende Palais Epstein als Standort mit hohem Symbolcharakter eintreten. Die Fortdauer der Auseinandersetzung um diesen Ort hängt damit zusammen, dass bei einem zivilgesellschaftlichen Diskurs selbst eine Entscheidung wie ein einstimmiger Beschluss von allen im Parlament vertretenen Parteien nicht ohne weiteres ein Ende der Diskussion bedeuten muss. Und es ist in dem Zusammenhang kein Zufall, dass der Klubobmann der Freiheitlichen Partei der erste war, der öffentlich versucht hat aus diesem Konsens auszuscheren, weil natürlich gerade eine Partei wie die FPÖ sehr genau spürt, dass hier eine grundlegende Frage politischer Partizipation, die möglicherweise für sie selbst einen politischen Vorteil bringen kann, angesprochen ist. Derartige Beispiele verweisen auf eine Zukunft, bei der sowohl die symbolische als auch die reale Bedeutung von Räumen eine entscheidende Frage für das Ausverhandeln zwischen unterschiedlichen Interessen in Österreich bedeuten wird.

Das neue Interesse am Raum als dynamische Größe ist etwas, was dem sogenannten "Ende der Geschichte", das Francis Fukuyama und andere nach 1989 verkündet haben, völlig widerspricht. Tatsächlich kehrt vieles an geschichtlicher Erinnerung zurück und bietet neue Chancen, die Traditionen der Stadt und dieses alte Wort "Stadtluft macht frei" für zeitgemäße Freiheitspotentiale und spezifische Gemeinschaftsbildungen wieder zuzulassen. Und an der Möglichkeit, dies zuzulassen, ohne reflexartig Vermummungsverbote zu verlangen oder moralische Fragen aufzuwerfen, wer denn an welchen Orten demonstrieren darf, daran wird sich auch die Qualität und die Reformfähigkeit unserer Demokratie erweisen.

"Stadtluft macht frei.

Die neue zivilgesellschaftliche Bedeutung von Städten" - die von Emil Brix und Klaus Zapotoczky herausgegebene Dokumentation einer Tagung der Österreichischen Forschungsgemeinschaft wird im Herbst im Passagen Verlag erscheinen.

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