Systemapokalypse now!

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Frank Castorfs Dostojewski-Großprojekt bei den Wiener Festwochen.

Frank Castorf ist seit 1991 (mit Paul Zechs "Das trunkene Schiff") fixer Bestandteil der Wiener Festwochen. So exzessiv wie heuer hat der als Stückezertrümmerer bekannt gewordene intellektuellste Regisseur deutscher Sprache noch nie inszeniert. Ein Dramen-Montierer ist er schon lange nicht mehr: "Schuld und Sühne" ist seine vierte Dostojewski-Bearbeitung, und auch neben den russischen Geniestreichen bedeuten ihm große Prosatexte neue theatrale Herausforderungen.

Castorf sieht sich selbst in seiner Auseinandersetzung mit Dostojewski "maximal im Vorhof von dessen Erkenntnis". Streng analytisch zerlegt der gelernte Dramaturg die Fragen Dostojewskis und setzt sie am Ende verzweifelt und ohne Lösungsangebot wieder zusammen. Dabei fordert er von seinem einzigartigen Ensemble ein Maß an Professionalität und Einsatz, wie es keine andere Truppe dem Publikum entgegendonnert. Man mag zu Castorf stehen, wie man will, aber seine Inszenierungen sind mit höchstem Anspruch gearbeitet und umgesetzt, die unangreifbar in die Geschichte des deutschsprachigen Theaters eingegangen sind.

Auf dem mehrstöckigen Mietshaus, auch Kulisse (Bühne: Bert Neumann) für die ständig übertragenen Videos des Theaterspiels - das bei Castorf schon lange keine Imitation von Wirklichkeit mehr bedeutet -, wird Leben dokumentiert, gefiltert, festgehalten und eingeschränkt vom KameraVoyeur wieder ausgespuckt. Auf der Treppe der Wohnzellen stürzt, bricht und mordet sich eine Gesellschaft in einer Ästhetik nieder, die jegliche Zuschreibungen und Differenzierungen zwischen Artistik, Film und Theater verweigert. Kein Wunder, dass sich Martin Wuttke als strubbeliger Rodion Raskolnikow kurz vor der Premiere dieses sechseinhalbstündigen Monsterprojektes den Finger gebrochen hat. Er hat die Pfandleiherin (Silvia Rieger) ermordet, und sein Denken gibt ihm Recht, zuerst das Fressen, dann die Moral, nur welche Moral in einer gottlosen Gesellschaft? Mit dem feigen Beamten Marmeladow (Ernst Arndt) frisst er sich bei seiner Wirtin (Irina Kastrinidis) nieder, bis er endlich kotzt, um wieder weiter an die Grenzen zu gehen, deren Überschreitung ihm die erlösende Erkenntnis bringen soll. Wenn der Kapitalismus Russland endgültig aufgefressen hat und amerikanische Machtinsignien auf Wellblechbordellen Glaube, Liebe, Hoffnung anbieten, verkaufen Mütter ihre Töchter wegen ein paar Rubel.

In der Verzweiflung einer Gesellschaft, wo der Kapitalismus zur Religion geworden ist, setzt Castorfs Inszenierung, die sich anarchistisch gegen Theaterkonventionen richtet, an. In der einzigen Pause findet im Publikum "Schichtwechsel" statt. Nur die Kritiker und ein paar Jünger sitzen bis 1.20 Uhr das konsequenteste Polit-Theater des Regie-Berserkers durch. Konkurrenzlose Schauspielkapazunder erfrischen im reflexiven Theater-Marathon: Jeannette Spassova als Raskolnikows Mutter, Thomas Thieme als zynisch-kunstbeflissener Staatsanwalt und mit ihrer unvergleichlich-kicksenden Röhre Birgit Minichmayr als trotzige Schwester Dunja. Systemapokalypse now!

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