Tägliches Apokalypserl

Werbung
Werbung
Werbung

Das Glück hat mir einen Maler zum Freund beschieden, der ein Haus auf Patmos besitzt, welches er diesen Sommer mir und den Meinen für ein paar Wochen überließ. Das Haus liegt gleich unterhalb des berühmten orthodoxen Klosters, das dem heiligen Johannes geweiht ist und die griechische Insel als über die Jahrhunderte niemals eingenommene Festung überragt.

Die türkischen Muselmanen haben sich, als sie das Kloster nicht erobern konnten, damit begnügt, diesem einen milden Tribut für die Insel aufzuerlegen; die katholischen Venezianer hingegen brannten 1659 alle Dörfer nieder, massakrierten die christlichen Männer und verschleppten die Frauen in die Bordelle der Rechtgläubigen.

Damals schien die Apokalypse Wirklichkeit zu werden, die der Apostel Johannes, von Kaiser Domitian nach Patmos verbannt, in den grauenhaften Visionen seiner hier verfassten "Offenbarung" vorweggenommen hat; die "Apokalypse" ist der rätselhafteste Teil des Neuen Testaments, ein sprachgewaltiges Stück Weltliteratur, das mit seiner Vernichtungswut noch heute eine schauerliche Lektüre bietet.

Schlendert man sommers durch die rund um das Kloster an den Felsen geschmiegte Kleinstadt Chora, begegnet man Scharen halbnackter Tagestouristen; sie schleppen sich vom Hafen zum Kloster hinauf, erhalten da von einem geduldigen Mönch einen Umhang überreicht, um ihr verbranntes Fleisch zu bedecken, und stehen dann erschöpften Blickes vor den in allem Zierat aus Gold doch düster anmutenden Schätzen, die in Kloster und Kirche angehäuft sind. Die bärtigen Mönche, eingehüllt in schwarzen und dunkelblauen Habit, nehmen die tägliche Eroberung der heiligen Insel mit erstaunlichem Gleichmut: Nein, der Untergang ist das nicht, nur das tägliche Apokalypserl.

Der Autor ist Schriftsteller und Literaturkritiker in Salzburg.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung