"Taiwan befindet sich im Wettlauf mit der Zeit"

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Von den Drohgebärden Beijings haben sich die Taiwanesen nicht einschüchtern lassen. Am Wochenende wählten sie Chen Shuibian, den Kandidaten der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), zu ihrem neuen Präsidenten. China, das in den Wochen vor dem Wahltag den Taiwanesen fast täglich mit Gewalt drohte, reagierte mit Zurückhaltung auf den Sieg Chens.

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Von den Drohgebärden Beijings haben sich die Taiwanesen nicht einschüchtern lassen. Am Wochenende wählten sie Chen Shuibian, den Kandidaten der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), zu ihrem neuen Präsidenten. China, das in den Wochen vor dem Wahltag den Taiwanesen fast täglich mit Gewalt drohte, reagierte mit Zurückhaltung auf den Sieg Chens.

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Die Furche: Erst ab etwa 2010 wird China militärisch in der Lage sein, einen Angriff gegen Taiwan zu starten, der auch Chancen auf Erfolg hat, betonen Experten in den USA und Taiwan. Sind dann alle Drohungen Beijings nur psychologische Kriegsführung?

Andrew Yang: Beijing ist sicher sehr in Sorge über die politische Entwicklung Taiwans und fürchtet, daß ein immer demokratischeres Taiwan weiter von der Wiedervereinigung wegrücken könnte. Das war auch der Hintergrund, vor dem Beijing Ende Februar sein Weißbuch herausgegeben hat (in dem es Taiwan mit Gewalt drohte, sollte dieses die Wiedervereinigung unbegrenzt hinauszögern, Anm.). Schon letzten Juli hat ja der alte Präsident Lee Teng-hui seine These von den "besonderen zwischenstaatlichen Beziehungen" zwischen Beijing und Taipeh veröffentlicht. China mußte also eine starke Botschaft senden, daß es so nicht weiter gehen könne.

Die Furche: Sollen diese Drohungen nur Beijings Glaubwürdigkeit untermauern oder fürchten Sie eine Gewaltanwendung?

Yang: China ist nervös. Also muß es sich auf die letzte Konfrontation einstellen. Es weiß aber auch, daß es derzeit nicht in der Lage ist, gegen Taiwan eine volle Militäraktion oder einen Präventivschlag durchzuführen. Es muß also darauf schauen, daß seine Armee rascher modernisiert wird. Beim Volkskongreß Anfang März wurde das Militärbudget offiziell um 12,7 Prozent erhöht - wobei es noch geheime Budgets geben soll. Zweitens senden die Chinesen auch eine Botschaft an die USA: "Unterschätzt nicht unsere Absichten. Zwar entspricht unsere Fähigkeit noch nicht den Standards, um Taiwan anzugreifen, aber wir werden das Problem lösen."

Die Furche: Ein Gutteil der Rhetorik soll also die mangelnde militärische Stärke wettmachen?

Yang: Sicher. Wobei es bei der Einschätzung der militärischen Fähigkeit immer ein Element der Fehlkalkulation gibt. Streng genommen kann Beijing natürlich Taiwan angreifen. Doch Taiwan zu zerstören und hohe Opferzahlen in Kauf zu nehmen, nützt Beijing nichts. Vor allem hat Beijing derzeit nicht die Fähigkeit, mit einem größerem Widerstand - also mit einer möglichen US-Intervention - fertig zu werden. Das bedeutet: Die USA haben Einfluß auf die Anwendung von Gewalt. Washington (das sich Ende der siebziger Jahre gesetzlich zum Schutze Taiwans verpflichtet hat, Anm.) deklariert sich nicht, wie es im Falle eines Krieges Chinas gegen Taiwan reagieren, wie weit es sich in einen solchen Krieg hineinziehen lassen würde. Das ist der Kern seiner Politik der sogenannten strategischen Ambiguität. Es gibt Chinesen, die sagen, wenn die USA versuchen einzugreifen, wenden wir Atomwaffen an. Aber das wäre noch riskanter. Ich sage: Wenn Beijing angreift, muß es sicher sein, daß es das Ganze in kurzer Zeit beenden kann, sagen wir, innerhalb von drei Tagen. Warum? Die 7. Flotte der USA ist in Japan stationiert, sie könnte in kürzester Zeit Taipeh zu Hilfe kommen.

Die Furche: Welche Szenarien gibt es für einen schnellen Schlag Beijings, der eine US-Intervention abschrecken würde? Wäre das ein Raketenangriff, ein Cyberwar, wie oft diskutiert wird?

Yang: Beijing spricht seit vielen Jahren über eine regionale Hi-Tech-Kriegsführung und modernisiert auch in diese Richtung. Daher möchte Taiwan modernere Raketenabwehr- und Frühwarnradarsysteme erwerben, denn es ist gegenüber den ballistischen Kurzstreckenraketen der Chinesen verwundbar. Vor Taiwans Präsidentenwahlen 1996 hatte China ungefähr 50 solcher Raketen an der Südküste stationiert, heute schon über 300. In einem künftigen Szenario ist ein Raketenangriff sehr wahrscheinlich. Dann wäre es sehr schwierig für Taiwan, sich zu verteidigen. Taiwans strategische Zentren (Häfen, Flughäfen, Raffinerien, Munitionsdepots, Telekommunikations-, Überwachungs-, und Radarsysteme) wären einem solchen Angriff ausgesetzt. Sie sind alle an der Westküste der Insel gelegen.

Das Szenario wäre: Beijing führt einen Präventivschlag durch, zerstört dabei eine große Zahl strategischer Zentren in Taiwan und blockiert dann mit einigen Unterseebooten die Häfen. Danach würde es eine Schnelleingreiftruppe schicken, um wichtige Flughäfen und Häfen zu besetzen. Das könnten sie binnen zwei Tagen erreichen. Dann wäre "die Schlacht" vorbei.

Die Menschen hier würden in Panik verfallen, weil alles so schnell gegangen ist. Dann würde China Taiwan den Olivenzweig bieten und sagen: Die Militäroperation ist beendet. Wir bieten nun eine friedliche Lösung. Das könnte immer noch nach dem Schema "Ein Land, zwei Systeme" sein wie in Hongkong, aber ihr müßt zugeben, Taiwan ist Teil von China. Zugleich könnte China eine Botschaft an die USA schicken: Das ist eine interne Angelegenheit, zudem haben wir schon begonnen, über eine friedliche Lösung zu sprechen. In den ersten 48 Stunden haben wir ja nur einige Anlagen zerstört, es gab nicht viele Opfer. Aber jetzt kontrollieren wir Luftraum und Seewege. Wenn ihr Amerikaner jetzt eingreift, werden wir eure Stützpunkte in Japan angreifen.

Wenn die USA dann keine militärische Konfrontation mit China wollen, könnten sie kalkulieren: Diese politische Lösung ist die beste Lösung. Und möglicherweise fordern sie dann nur, alles weitere müsse mit der Zustimmung der Taiwanesen geschehen. Aber ein Verlierer kann nicht so leicht mit dem Gewinner verhandeln.

Die Furche: Denken Sie, daß die USA, wo ja hitzige Debatten zu dem Thema laufen, sich schlußendlich dazu durchringen, den Taiwanesen mehr Waffen zu verkaufen, um genau diesem Szenario entgegenzuwirken?

Yang: In den USA befürwortet eine Gruppe von Experten mehr Waffen für Taiwan. Eine andere sagt: Dieser militärische Wettkampf auf beiden Seiten der Meeresenge führt nirgendwo hin. Taiwan kann mit Beijing nicht mithalten. Das verbraucht zu viele Ressourcen und wirkt sich negativ auf seine ökonomische Entwicklung aus. Die US-Regierung macht sich manchmal die Argumente der einen Seite zu eigen und betont, daß sie Taiwans Verteidigung stärken sollten, dann aber fordern sie wieder die friedliche Annäherung und senden an Taipeh wie an Beijing die Botschaft: Wir möchten da nicht reingezogen werden. Wir haben euch beide satt. Also geht die Debatte weiter.

Taipeh neue Waffen zu verkaufen, hieße jedenfalls zu versuchen, Zeit für Taiwan zu kaufen und für den Status quo. Jetzt ist das Gesetz über die Verbesserung der Sicherheit Taiwans ("Taiwan Security Enhancement Act") im US-Senat. Das Unterhaus hat es gebilligt, der Senat verzögert nun. Die USA müssen kalkulieren, wie Beijing darauf reagieren könnte: China könnte etwa seine Bewerbung zur WTO zurückziehen oder die diplomatischen Beziehungen herunterstufen und die Geschäftskontakte reduzieren. Natürlich würde auch Beijing unter solchen Maßnahmen leiden, es könnte aber sagen: Wir haben schon schwierigere Zeiten durchgemacht, etwa als 1989 die USA mit einem Embargo auf Tiananmen reagierten. Letztlich aber konnten sie dann doch nichts anderes tun, als es Schritt für Schritt wieder aufzuheben. Viel hängt davon ab, wieviel beide Seiten zu opfern bereit sind.

Die Furche: Wenn Taiwan die Waffen nicht bekommt, könnte es die Technologie erwerben, um sie selbst zu bauen?

Yang: Sehr, sehr schwer. Die USA exportieren die Raketentechnologie nicht. Bis jetzt haben auch US-Alliierte in der Region, wie Japan und Südkorea, diese Technologie nicht erhalten. Die USA würden alle am Raketenabwehrsystem teilhaben lassen, aber nicht die Technologie teilen.

Die Furche: Taiwan befindet sich also in einem Wettlauf mit der Zeit?

Yang: Das ist der Grund, warum viele Experten in den USA so besorgt sind, daß die Balance kippen könnte, weil die Taiwanesen ihre eigene politische Identität forcieren. Die USA können Taiwan aber nicht sagen, tut das nicht, denn sie sind ja für Demokratie. Die Taiwanesen wissen, daß Beijing besorgt ist, aber sie können dennoch Initiativen setzen. Keiner hatte letzten Juli erwartet, daß Altpräsident Lee seine These von der "besonderen zwischenstaatlichen Beziehung" zwischen Beijing und Taipeh aufstellen würde. China war erbost, die USA überrascht. Aber die öffentliche Meinung in Taiwan stand hinter Lee. Die Taiwanesen rechnen damit, daß die USA die Demokratie in Taiwan nicht opfern werden. Die junge Generation wächst in diesem kulturellen und politischen Umfeld auf, daß Taiwan anders ist als China. Vor allem die Jungen unter 40 sagen, wir wollen keine Wiedervereinigung. China ist ein Land der Dritten Welt. Wir sind entwickelt und wohlhabend. Wir streben nach mehr Freiheit, Wohlstand und einem guten Leben für alle. Und wir wollen unsere eigene Zukunft entscheiden.

Das Gespräch führte Brigitte Voykowitsch ZUR PERSON Generalsekretär eines "Think Tank" in Taipeh Yang studierte Anfang der achtziger Jahre Internationale Beziehungen an der renommierten London School of Economics und lehrte dann internationale Politik an der Universität von Oxford. Mitte der achtziger Jahre kehrte er nach Taiwan zurück, um an der Sun Yatsen-Universität in Kaohsiung zu forschen. Seit 1992 ist er Generalsekretär des "Chinese Council for Advanced Policy Studies", eines privaten "Think Tank" in Taipeh, der sich insbesondere mit Militär- und Sicherheitsfragen in der Region befaßt. Yang, der viel zur chinesischen Volksbefreiungsarmee geforscht hat, ist zudem Berater für den Rat für Festlandbeziehungen, des im Ministeriumsrang stehenden höchsten taiwanesischen Organs für die Beziehungen mit der Volksrepublik China.

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