Taktgefühl - eine Frage des Ethos

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Schnell macht munter, langsam macht ruhig? So einfach ist es nicht. Das Tempo war in der Musik immer auch eine moralische Kategorie. Ein Überblick im Zeitraffer.

"Tempo, Tempo, meine Herren!“: Mit diesen Worten pflegte Felix Mendelssohn Bartholdy die Musiker seines Orchesters anzuspornen. Der Komponist - und erster Vertreter des Typus Dirigent in seiner heutigen Erscheinungsform - war für seine Vorliebe für schnelle Tempi bekannt. Sängern gegenüber formulierte er sein Credo folgendermaßen: "Singen Sie nie ein Lied so, dass man dabei einschlafen kann, selbst ein Wiegenlied nicht.“ Als Mendelssohns Antipode könnte der Dirigent Sergiu Celibidache angeführt werden, der für sein extrem langsames Tempo berühmt war. Für Anton Bruckners E-Dur-Sinfonie zum Beispiel, die sein Rivale Herbert von Karajan in 65 Minuten schaffte, brauchte Celibidache über eineinhalb Stunden. "Musik kommt aus der Stille und kehrt in die Stille zurück“, lautete seine Philosophie. Das Tempo der Stille lässt sich gewissermaßen mit null beziffern.

Das Tempo ist ein wesentlicher Faktor in der westlichen Musik. Ob ein Stück langsam oder schnell gespielt wird, macht einen Riesenunterschied. Aus der Perspektive der Musikpsychologie führen die möglichen Kombinationen von Geschwindigkeit und Tongeschlecht zu ganz unterschiedlichen emotionalen Reaktionen: Musik in Moll in langsamer Geschwindigkeit evoziert Trauer, schnell gespielt ruft sie Ärger oder Furcht hervor. Ein Musikstück in Dur hingegen wird schnell gespielt als fröhlich, langsam gespielt als beruhigend und ausgleichend erlebt.

Theorienstreit ums richtige Tempo

Wie schnell ein Stück gespielt wird, hängt demnach von der beabsichtigten Wirkung ab. Umso erstaunlicher ist es, dass die Frage nach dem richtigen Tempo in der klassischen Musik keineswegs so eindeutig geklärt ist, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Vertreter der sogenannten Tempo-giusto-Bewegung behaupten, klassische Musik würde heutzutage doppelt so schnell gespielt wie zur Zeit ihrer Entstehung. Das Tempo eines Stückes wurde nämlich nicht nur mit den üblichen Tempobezeichnungen wie Adagio (langsam) oder Allegro (schnell) vorgegeben, sondern auch mit der Anzahl der Schläge eines Pendels bzw. des 1814 erfundenen Metronoms. Der Musikwissenschaftler Willem Retze Talsma zum Beispiel vertritt die Ansicht, in früheren Zeiten habe ein Schlag eine volle Schwingung bedeutet, also die Bewegung von einer Amplitude zur anderen und wieder zurück, während heute nur die Bewegung von einer Amplitude zur gegenüberliegenden, also nur die eine Hälfte der Pendelbewegung, als ein Schlag gezählt werde.

Diese Theorie würde erklären, warum so manches Werk der Klassik und Frühromantik in der vorgegebenen Geschwindigkeit unspielbar ist, etwa Ludwig van Beethovens Hammerklaviersonate, die kein Pianist mit der vorgeschriebenen Geschwindigkeit von 138 beats per minute (BPM, Schläge pro Minute) bewältigen kann. Umgekehrt aber macht ein angenommenes halbes Tempo die Ausführung der Schritte in den höfischen Tänzen des Barock und der Vorklassik praktisch unmöglich, wie der Musikwissenschaftler Klaus Miehling darlegte. Außerdem ist es kein Zufall, dass ein mittleres Tempo (Andante bis Allegretto) ungefähr 60 bis 80 BPM beträgt - das entspricht nämlich der normalen menschlichen Pulsfrequenz. Hätte die Tempo-giusto-Bewegung Recht, ginge dieser musikpsychologisch einleuchtende Zusammenhang verloren.

Die Tempo-giusto-Bewegung ist zweifelsohne eine Manifestation jener gesellschaftlichen Strömung, die die zunehmende Beschleunigung des heutigen Lebens beklagt und sich das Motto der Entschleunigung auf die Fahnen geheftet hat. So gesehen ist das Tempo der Musik nicht nur eine technische oder historische Frage, sondern eine moralische Kategorie.

Das ist nicht weiter erstaunlich, denn das Tempo in der Musik war immer schon eine Frage des Ethos. Bereits bei den Alten Griechen war die Geschwindigkeit, mit der musikalische Stücke dargeboten wurden, Ausdruck unterschiedlicher moralischer Haltungen: Langsame Musik galt als würdevoll, erhaben und männlich, schnelle Musik als würdelos, niedrig und weibisch.

Diese Wertung hat sich heutzutage ins Gegenteil verkehrt. In der modernen populären Musik im weitesten Sinn - also Pop, Rock Jazz und elektronische Tanzmusik, von der sogenannten Neuen Musik soll hier mangels Relevanz nicht die Rede sein - ist die Vormachtstellung von hohem Tempo unübersehbar.

Einzeltanz als Entwicklungsmotor

In der Klassischen Musik ist irgendwo bei einer Geschwindigkeit von 180 BPM der Plafond erreicht. Solche Geschwindigkeiten wurden obendrein nur selten eingesetzt; selbst eine durchschnittliche Schnell-Polka hat nur 160 BPM. Da werden im Swing ganz andere Geschwindigkeiten erreicht. Die bei seinerzeitigen Jazz-Fans so beliebten Up-Tempo-Nummern sind so schnell, dass ein herkömmliches Metronom nicht mehr mitkommt: Auf der Metronom-Skala ist 208 BPM die schnellste Angabe. In der Bebop-Ära (als der Jazz sich von Pop- zu Kunstmusik entwickelte) wurden manche Stücke mit extremen Geschwindigkeiten von bis zu 380 BPM aufgeführt.

In Rock und Pop hat das hohe Tempo eindeutig das größere Renommee. Schon im ursprünglichen Rock’n’Roll war die schnelle Nummer die Königsdisziplin. Rockmusik wurde im Lauf der Zeit immer schneller, bis sie schließlich im Heavy Metal gipfelte. Im Speed Metal, der die Geschwindigkeit im Namen trägt, werden bis zu 400 BPM erreicht, ebenso wie im Thrash Metal, bei dem der Schlagzeuger mit irrem Tempo auf sein Instrument eindrischt ("to thrash“ bedeutet dreschen).

Ein Motor dieser Entwicklung war die Ablösung des Paartanzes durch den Einzeltanz in den 1960er-Jahren. Wenn Menschen sich auf einer Tanzfläche alleine zur Musik bewegen, bedarf es eines gewissen Tempos, damit die Bewegungen nicht Gefahr laufen, ins Peinliche abzugleiten. Das Tempo von Techno zum Beispiel liegt zwischen 120 bis 150 BPM und entspricht damit ziemlich genau dem klassischen Allegro. In der Northern-Soul-Bewegung etwa werden überhaupt nur Nummern in den Kanon aufgenommen, die eine Geschwindigkeit von zirka 125 BPM haben.

Die Liebhaber langsamer Musik haben es heute schwer. Wehe dem Discjockey, der - außer im Club der einsamen Herzen - eine langsame Nummer aufzulegen wagt. Balladen - von Elvis’ "Loving You“ bis Whitney Houstons "I Will Always Love You“ - werden als Schnulzen oder Kitsch diffamiert. In grotesker Umkehr des Diktums der Alten Griechen ist heute die schnelle, tanzbare Musik die ernst zu nehmende, während Balladen als minderwertiger Mädchenkram betrachtet werden. Daraus lässt sich, wenn man so will, folgende These ableiten: Die Gesellschaft befindet sich in einer wachsenden Beschleunigung, in der eben auch in der Musik Ruhe und Gemächlichkeit zunehmend ihre Berechtigung verlieren.

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