Tapferkeit vor dem Freund

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Zivilcourage ist nötig, besonders gegen die "Erbsünde des Österreichers": den Mangel an Freiheitssinn.

Der Philosoph Alastair Mac-Intyre hat im Buch "Der Verlust der Tugend" (1987) ein Gedankenexperiment vorgestellt: Die Naturwissenschaften sind Opfer einer Katastrophe, alle Erkenntnisse vernichtet. Ruinen und Reste blieben ... So sei es in der Ethik. Die große Tradition sei verlorengegangen.

Oft habe ich Studierende gefragt, was klassische Tugenden seien. Sie konnten und können sie nicht nennen. Nach längerem Gespräch kommt die Antwort: Zivilcourage. Auch wenn die traditionellen Kardinaltugenden nicht mehr zum Bildungskanon gehören, so wird doch menschliches Richtigsein gekannt und benannt.

Die österreichische Geschichte war eine von Niederlagen des Widerstandes. Schon die Gegenreformation kann man als Beispiel dafür anführen, dass aufrechte Menschen verfolgt wurden, auswandern mussten und anpassungswillige und -fähige zurückblieben. Immer wieder haben wir gelernt, uns anzupassen, um zu überleben. Jahrhundertelang und gerade auch im 20. Jahrhundert wurden immer wieder Menschen getötet, in die Emigration oder in die Resignation getrieben, welche Nein-Sager waren. Wie oft bewirkten äußere und innere Besatzungsmächte Ordnung, Ruhe, Anpassung und vorauseilenden Gehorsam.

Gelernt, uns anzupassen

Rechtsstaat und Demokratie wurden erst nach vielen Brüchen und Widersprüchen, Kriegen und Bürgerkriegen, Opfern und Niederlagen durchgesetzt. Für Europa ist das Paradoxon festzustellen, dass mit der Erreichung des Rechtsstaates und der Demokratie, die im Alltag ohnehin nur in Ansätzen vorhanden waren, oft die Tradition der Freiheit in Vergessenheit geriet. Vergeblich sucht man in der Rechts- und Staatstheorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach dem Widerstandsrecht. Obrigkeitsstaat und Untertanenmentalität setzten sich lange fort.

Max Burckhard, Rechtsgelehrter, Burgtheaterdirektor, Schriftsteller, sprach vor über 100 Jahren von der "Erbsünde des Österreichers": "Diese Sünde ist der Mangel des Freiheitssinns. Oder was dasselbe ist, der Mangel des Rechtssinnes. Des Rechtssinnes wenigstens in Dingen des öffentlichen Lebens, jenes Rechtssinnes, aufgrund dessen der Einzelne nicht nur dann empört aufschreit oder doch erbittert knirscht, wenn eine Rechtsbeugung, eine Vergewaltigung der Machthaber ihn oder einen seiner engen Genossen trifft, sondern auch dann, wenn es sich um einen Fernstehenden, ja, um einen Gegner handelt ..."

Tempi passati. Wir haben nunmehr 50 Jahre politische Freiheit in jedem Sinn hinter uns, und vielleicht kann man schon von einer Tradition, jedenfalls vom Training der Freiheit sprechen. Heute haben wir eine Zivilgesellschaft, die von manchen Bürgergesellschaft oder sogar zivilcouragierte Gesellschaft genannt wird. Was aber ist Zivilcourage und wer bestimmt sie?

Training der Freiheit

1964 erschien John F. Kennedys "Profiles of courage", deutsch: "Zivilcourage". Darin führt Kennedy Politiker vor, die den Mut hatten, ihre eigenen Ansichten gegenüber ihrer Partei und ihrer Wählerschaft zu vertreten und durchzusetzen. Wer immer in Diskussionen über das freie Mandat mit Bürgerinnen und Bürgern war, weiß, wie sehr diese Zivilcourage in Österreich gefordert ist. Aber Zivilcourage ist nicht Wagemut, Draufgängertum und Tollkühnheit. Es geht um ein Engagement, um ein "Sich-einsetzen", mit der Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen. Es geht um eine besondere Tapferkeit, besonders um die vor dem Freund und gegen das Kollektiv. Zivilcourage ist etwas Individuelles. Einem Kollektiv kann man sie nicht zusinnen. Außenseiter, Einzelgänger, Grenzgänger sind oft ihre Träger, aber nicht nur sie.

Zivilcourage ist politisch in einem weiten Sinn. Denn couragiertes Verhalten kann immer als Beispiel gelten und damit auch als Regel für andere. Kants "Was ist Aufklärung?" und sein kategorischer Imperativ fallen einem ein. Zivilcourage wird in der Literatur als demokratische Tugend der wechselseitigen Hilfe definiert, in einer solidarischen Gesellschaft als moralisch bestimmtes und gerechtfertigtes Handeln vorausgesetzt. So umschreibt sie Till Bastian als "Wahrnehmung von Verantwortung im überschaubaren, unmittelbaren persönlichen Wirkungs- und Gestaltungsbereich." Politik ist im Kleinen basis-demokratisch am Werk. (Zivilcourage. Banalität des Guten, Berlin 1996) Kurt Singer versteht sie als "Widerstandsrecht der kleinen Münze". In "Zivilcourage wagen. Wie man lernt, sich einzumischen" (München 1992) setzt er das Ziel, "die Herrschenden herauszufordern" gegenüber Autoritätsgläubigkeit und Anpassungszwang. Eine Ethik der Anteilnahme und Fürsorge, eine "Tapferkeit des Herzens" sei grundlegend.

Tapferkeit des Herzens

"Die Bürgerlichkeit der Vernunft: Orientierung durch Zivilcourage" ist für Simone Dietz eine Richtschnur des Verhaltens. Es geht um eine normativ gebundene Fähigkeit, die nicht nur einer privaten Überzeugung, sondern allgemeinen Prinzipien verpflichtet ist, um "eine politische Tugend, die einem normativen Begriff der Bürgerlichkeit verpflichtet ist, der sich auf eine bestimmte politische Praxis richtet." (in: "Sich im Denken orientieren", Frankfurt 1996) Sie spricht von einem Handeln, das "auf Mut, Gemeinsinn und Orientierungsvermögen zugleich beruht." Zivilcourage ist aber meist "viel weniger". Insofern stimme ich Wolfgang Heuer zu, der sein Buch "Couragiertes Handeln" (Lüneburg, 2002) aufgrund von Fallstudien nüchtern und der Realität entsprechend verfasst hat. "Alle Geschichten vom Widerstand, zivilem Ungehorsam und Zivilcourage scheinen von Mythen und Vorannahmen zugedeckt zu sein, so dass jede weitere wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiet eine kritische Rekonstruktion der jeweiligen Ereignisse und zugleich auch ständige Dekonstruktion der Mythen beinhalten sollte."

Kennedy schrieb: "In der Demokratie ist jeder Bürger, wie immer sein Interesse an der Politik geartet sein möge, ein Amtsträger'. Jeder von uns ist auf irgendeine Weise für irgendetwas verantwortlich, und die Art der Regierung, die wir haben, hängt letzten Endes davon ab, wie wir diese Verantwortung tragen ... Wir stehen alle ständig der gleichen grundlegenden Alternative gegenüber: Mut oder nachgeben." Diese Feststellung betrifft auch den privaten Bereich und insbesondere den Arbeitsplatz.

Mut am Arbeitsplatz

Deshalb soll abschließend ein Fall geschildert werden, der in die Annalen der Verfassungsgerichtsbarkeit eingegangen ist. Ein Beamter des Landesarbeitsamtes Wien hatte in den Wirtschaftspolitischen Blättern unter dem Titel "Gibt es in Österreich noch Reserven an Arbeitskräften?" die Zahl der Dienstposten der Arbeitsverwaltung für die Jahre 1938 und 1959 sowie die Zahl der Höchststände der vorgemerkten Arbeitssuchenden und Leistungsempfänger in den Jahren 1937 und 1959 verglichen. Daraus ergab sich, dass wesentlich mehr Bedienstete relativ weniger zu arbeiten hatten.

Die Dienstbehörde warf ihm vor, das Ansehen der Arbeitsverwaltung in der Öffentlichkeit dadurch herabzusetzen und zu diskriminieren. Er wurde für schuldig befunden, die Pflicht, jederzeit auf die Wahrung der öffentlichen Interessen bedacht zu sein, verletzt zu haben.

Der Verfassungsgerichtshof gab dem Beschwerdeführer recht. Inhalt, Form und äußere Umstände der Veröffentlichung sprächen dafür, dass der Beschwerdeführer dem öffentlichen Interesse habe dienen wollen. Das Aufzeigen von Reserven an Arbeitskräften in der öffentlichen Verwaltung diene dem öffentlichen Interesse. Der Ton der Ausführungen sei sachlich. Der Beschwerdeführer habe sich also offenbar bemüht, sach- und formgerecht den öffentlichen Interessen zu dienen. Infolge denkunmöglicher Anwendung des § 21 Dienstpragmatik sei der Bescheid gesetzlos. Der Beschwerdeführer sei in seinem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt worden. Zivilcourage am Arbeitsplatz, im öffentlichen Dienst, Österreich 1962.

Der Autor ist Professor für Recht und Politik an der Universität für Bodenkultur in Wien, der Text eine Kurzfassung seines Referates beim Symposium "Zivilcourage" der Österreichischen Forschungsgemeinschaft am 26./27. Mai in der Kunsthalle Wien.

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