Die Kulturgeschichte der Geburt beleuchtet eine eindringliche Ausstellung im Museum für Volkskunde in Wien.
Anfang und Ende, Geburt und Tod: im geschlossenen Bereich der Kliniken, gehen die zwei einschneidendsten, archaischen Momente des Menschenlebens unbeachtet von der Öffentlichkeit vor sich. Die Sonderausstellung "Aller Anfang" im österreichischen Museum für Volkskunde widmet sich der Geburt umso eindringlicher aus verschiedensten Perspektiven:
Während in den Entwicklungsländern unter ungünstigsten materiellen und hygienischen Bedingungen nach wie vor zu viele Kinder geboren werden, geht die Geburtenzahl in unseren Breiten besorgniserregend zurück. Schwangerschaftsverhütung, Reproduktionstechnologien und andere Errungenschaften moderner Forschung haben die Geburt immer mehr zum technischen Vorgang gemacht. Schwangere werden zu Gebärenden, verschwinden für die Dauer der Entbindung aus dem Bewusstsein des weiteren Bekanntenkreises. Als anonyme Überforderte finden sie sich bei Kindesweglegungen in den Schlagzeilen oder als glückliche Mütter mit kreischendem Säugling im Familienalbum wieder. Selbst natürliche Geburten ohne In-Vitro Fertilisation folgen einem präzisen, genau dokumentierten Ablauf im sterilen Umfeld eines Krankenhauses, wo 98 Prozent aller österreichischen Babies geboren werden. Vom Mutter-Kind-Pass über vorgedruckte Aufnahmeformulare bis hin zu den blauen und rosa Bändchen an den Handgelenken der Neugeborenen ist der Geburtsvorgang normiert. Das einzigartige, individuelle, überwältigende Urerlebnis selbst droht in diesem medizinisch abgesicherten, klinischen Umfeld kollektivem "Geburtsvergessen" anheimzufallen.
"Als Geburtshelferin war ich immer der Meinung, dass die Vorbereitung auf die Geburt für die Frau und das Paar weit, weit vor der Schwangerschaft anfängt. In Wirklichkeit beginnt sie mit dem persönlichen, familiären und sozialen Gepäck, das wir hinter uns her tragen", meint Piera Maghella. "Das Wissen von Generationen, Erfahrungen der eigenen Geburt, Geschichten aus dem soziokulturellen Umfeld - all das hat großen Einfluss darauf, wie wir den Geburtsvorgang erleben und verarbeiten." Maghella ließ 10-Jährige in der Volksschule Geburten zeichnen. Medizinische Geräte, Scheren, Messer, Infusionsschläuche, Ärzte, die in Frauen hineingreifen, ohnmächtige Väter, hilflos auf Betten hingestreckte Mütter. Alle Kinder wissen, dass ihre Mamas unerträglichen Schmerz erdulden mussten. Ohnmächtige Leidensgeschichten sind hier zu sehen, keine einzige frohe Zeichnung ist darunter. "Die Geburt hat einen fundamentalen Einfluss auf das Bild, das man von sich und dem Leben hat," meint Maghella. Unter diesem Aspekt stellen die Kinderzeichnungen unserer Gesellschaft ein alarmierendes Zeugnis aus.
Bevor sich die Medizin im 17./18. Jahrhundert für die Geburt interessierte, war Gebären eindeutig Frauensache, im 15./16. Jahrhundert wurde aus der weisen, teilweise als Hexe verfemten und verfolgten Geburtshelferin die professionelle Hebamme. Justina Siegemundin war die erste im deutschen Sprachraum, die 1452 ein geburtshilfliches Lehrbuch verfasste. Bis in die fünfziger Jahre zogen Hebammen in unseren Breiten mit Nabelschnurbändchen, Schere, Mutterrohr und anderen essentiellen Utensilien von Haus zu Haus. Heute arbeiten die meisten im Spital.
Der Beginn der Gynäkologie ist ein finsteres Kapitel Medizingeschichte. In den neu gegründeten Gebärkliniken, den "Accouchiranstalten" wurde an armen, ledigen Frauen herumexperimentiert. In Göttingen wandte man bei mehr als der Hälfte der Gebärenden Geburtszangen an. Schambeintrennungen waren üblich. Die erste 1777 mit der sogenannten Symphyseotomie behandelte Frau Souchot konnte neun Jahre nach dem Eingriff noch nicht gehen, Scheide und Gebärmutter hingen aus dem Becken, der Harn floss unwillkürlich ab, die getrennten Knochen waren noch nicht zusammengewachsen. Obwohl dieses katastrophale Operationsresultat in der Fachpresse publiziert wurde, praktizierten viele Geburtsmediziner in Europa den Schambeinschnitt. Mit einer Anzahl von Nadeln oder der Giglischen Säge wurde dabei zur Erweiterung der Geburtswege das Schambein zersägt. Vaginalrisse, Blasenverletzungen, große Hämatome und starker Blutverlust waren die Folge.
Lukas Johann Boër, der 1817 die Lehrkanzel für theoretische und praktische Geburtshilfe in Wien übernahm, zog gegen solche Praktiken vehement zu Felde. Er wies bei einer von Bernhard Guerard durchgeführten Geburt nach, dass es nach fünfstündiger Wendung und dem Tod des Kindes keinen Grund mehr zur Schambeintrennung gab und verurteilte sie als "an der Frau auf grausame Weise durchgeführte Operation und eindeutigen Fehler." Boër lehnte die übertriebene operative Geburtshilfe strikt ab. Ähnlich verdienstvoll wirkte Ignaz Semmelweis, der die Ursachen des Kindbettfiebers erkannte. Ärzte und Studenten, die vom Seziersaal kamen, um die Gebärenden zu untersuchen, infizierten die Frauen tödlich. Die Einführung von Chlorkalkwaschungen der Medizinerhände reduzierte die Müttersterblichkeit auf seiner Abteilung schlagartig um die Hälfte.
Moderne Geburtskliniken setzen auf größtmögliche Sicherheit: im Jahr 2000 betrug die Säuglingssterblichkeit 4,8 Promille. Selbst Hochtechnologiemedizin kann Totgeburten oder das Sterben in der ersten Lebenswoche nicht verhindern: auf 1000 Lebendgeborene kommen 6,7 tote Babies.
Stark unterentwickelte Länder müssen gänzlich ohne Ärzte auskommen. Hier ist die Gebärende nach wie vor fest in der Hand weiser Frauen, die ihr Wissen über Generationen weitergeben und es mit jeder Geburt vermehren. In Mafa in Nordkamerun bringt eine Mutter ihr Baby in der freien Natur zur Welt. Sie sitzt dabei, von Frauen umringt, auf einem Stein. Weil jede Komplikation tödlich verlaufen kann, legt man großen Wert auf Prophylaxe. Spezielle Diätvorschriften für Schwangere, Bäder, Waschungen, die günstige Beeinflussung des seelischen Zustandes und ähnliches spielen eine wesentliche Rolle. Religiöse Rituale, Opfergaben für Schutzgötter, Amulette, Fruchtbarkeitspuppen, pflanzliche Heilmittel, Wärme und schmerzlindernde Massagen und Körperhaltungen erleichtern die Wehen. Der "Süße Besen", der aus vielen kleinen wohlriechenden Früchten gebunden wird, dient zur Abwehr böser Kräfte, er soll von Angst und Schmerz befreien. Physiologische Untersuchungen ergaben, dass diese Früchte über die Hautrezeptoren den Kreislauf stimulieren und die Blutzirkulation anregen. Die Mafa legen auch besonderen Wert auf die Nachgeburt. Mit frischer Asche wird der Nabelschnurrest desinfiziert, Ocker als Farbe des Lebens wird auf Nabelstumpf, Stirn und Magengegend des Neugeborenen getupft. Das wirkt austrocknend. Während bei uns Plazenta und Nabelschnur im Spitalsmüll entsorgt, als Blutreserven konserviert oder für die Kosmetikindustrie weiterverarbeitet werden, versorgt die Hebamme in Nordkamerun die Nachgeburt in einem Tontopf. Die Mafa nennen sie liebevoll "kleine Schwester". In einem religiösen Zeremoniell zum Wohle des Kindes wird sie feierlich bestattet. Während der Zeit des Wochenbetts, in der Mutter und Neugeborenes als sehr gefährdet gelten, werden beide intensiv nachbetreut.
Fruchtbarkeit ist in Agrarregionen sehr wichtig. Um den Frauen den Druck des Gebärzwanges zu nehmen, benutzen die Dowayo in Nordkamerun Fruchtbarkeitspuppen. Die hölzernen Figuren, die mit Perlenschnüren und Fruchtbarkeitssymbolen umwickelt werden, trägt die Unfruchtbare wie ein Baby mit sich herum. Der Schmuck soll sie vom Makel der Unreinheit und Krankheit befreien und schützen. Die Puppe, um die sich die Frau auch kümmert, wird zum Stellvertreter für das ersehnte Kind. Die psychologische Wirkung, sich innerlich auf das Baby einzustellen, verstärkt den Wunsch und führt oft wirklich zur Schwangerschaft.
Dasselbe Problem löst bei uns die In-Vitro-Fertilisation, ein weiteres Indiz der Technologisierung der Geburt in industriellen Gesellschaften. Die letzte Konsequenz, das Klonen des künstlichen Menschen, scheint nur noch eine Frage der Zeit. Den seelischen Wunden, die sich aus der Entfremdung vom archaischen, komplexen, prägenden Urerlebnis zwischen Mutter und Kind ergeben, kann man im Museum für Volkskunde in vielen weiblichen, vereinzelt auch männlichen, künstlerischen Arbeiten zur Geburt nachspüren.
Bis 6. Oktober
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