Teilbar nur durch sich selbst

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Als ein erschütterndes Dokument liest sich Szilárd Borbélys Roman "Die Mittellosen", auch angesichts des frühen Todes des ungarischen Autors vor einem Jahr.

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Als ein erschütterndes Dokument liest sich Szilárd Borbélys Roman "Die Mittellosen", auch angesichts des frühen Todes des ungarischen Autors vor einem Jahr.

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Schlägt man ein Buch auf, findet sich oft zunächst ein literarisches Motto, etwa ein Ausschnitt aus einem Gedicht. Dieses Buch aber bietet Zahlen auf der ersten Seite, genauer: Primzahlen. Der Ich-Erzähler mag sie, denn sie sind einsam wie er. Und so setzt der Roman auch mit einer Primzahl ein, wenn der Sohn an der Seite der Mutter geht und schweigt: "Dreiundzwanzig Jahre trennen uns. Die Dreiundzwanzig kann man nicht teilen. Die Dreiundzwanzig ist nur durch sich selbst teilbar. Und durch eins. So ist die Einsamkeit zwischen uns. Man kann sie nicht in Teile zerlegen. Man schleppt sie als Ganzes mit sich."

Szilárd Borbélys Roman "Die Mittellosen" hat nichts Anheimelndes an sich. In knappen Sätzen buchstabiert er eine sprachlose Welt, in der ein Kind aufwächst und Schläge häufiger sind als Worte. Und wenn dann doch geredet wird, dient die Erzählung zwar der Festschreibung von Erinnerungen -wie die Vergangenheit kollektiv gedacht werden soll -, aber selten der Beruhigung eines Kindes: Dass die Bauern den Kindern ihre Träume nehmen, indem sie eine Katze neben ihnen im Bett totschlagen, gehört zu diesem "Erzählschatz" ebenso wie die Erinnerungen an die realen Deportationen der Juden im Ort.

Borbély erzählt von Herrschaft und Außenseitern, von Armut und was sie aus Menschen macht. Kinder quälen Tiere, wie sie selbst gequält werden, die Mutter droht immer wieder sich umzubringen und versetzt die Kinder damit in Panik, der Vater versäuft seinen Kummer in der Kneipe, der kleine Bruder stirbt nach dreizehn Monaten Leben -die Suppe, gekocht aus zwei Tauben, hat ihm nicht geholfen. Derartiges Elend kann man leider an vielen Orten und zu vielen Zeiten finden, und doch ist dieses Buch noch mehr als ein sprachlich auffallend versierter Aufschrei gegen die Zurichtungen eines Menschenlebens. Denn die Geschichte des Kindes ist auch regional zu verorten, im Dreiländereck Ungarn-Ukraine-Rumänien -und sie ist politisch, nicht nur weil sie auf die Sprache achtet.

Ungarische Zeitgeschichte

Die Familiengeschichte erzählt Zeitgeschichte: Der Großvater war Großbauer, der Vater verliert dadurch seinen Job in der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, muss schließlich sogar das Dorf verlassen. Einst hatten die Bauern das Sagen, der Kommunismus brachte neue Herren. Und die Juden waren "die Anderen", sodass sie zum Synonym für Ausgestoßene werden können, selbst wenn es gar keine Juden mehr gibt.

"Ist der Messias schon weg?", lautet der Untertitel des Romans. Er zitiert jene Szene, in der die Leute den Messias bei der Kneipe suchen. Der Messias des Dorfes leert die Plumpsklos, als einziger trägt er einen Bart, das brachte ihm seinen Namen ein. "Wegen des steifen Rumpfes, des trotzig aufgeworfenen Kopfes, der herunterhängenden spindeldürren Arme scheint es, als liefe Messias nicht auf der Erde, sondern gleite durch die Luft. Als berührten seine Füße gar nicht die Erde."

Sie wären Ruthenen, hört das Kind. Huzulen, sagt wer anderer, aber das wären eh Ruthenen. Oder ist der Vater Jude? Von den religiösen Ritualen daheim darf das Kind in der Schule nicht sprechen, auch nicht von der Sonntagsmesse bei den Pinkas in der Wohnstube. Dass sie Ungarn seien, müssen die Kinder sagen, schärft ihnen die Mutter ein: "Wir sind Ungarn, das müsst ihr sagen. Denn wir sind Ungarn." Obwohl Borbély in der erzählten Zeit und der Welt des Kindes bleibt, werden damit Probleme auch des gegenwärtigen Ungarns sichtbar. Die politischen Entwicklungen in seiner Heimat setzten dem Autor sehr zu.

1963 wurde Szilárd Borbély in Fehérgyarmat geboren, er studierte ungarische Sprache und Literatur, seit 1988 veröffentlichte er Gedicht- und Prosabände und übersetzte Lyrik von Monika Rinck, Robert Gernhardt, Durs Grünbein ins Ungarische. "Die Mittellosen", 2013 erschienen, war sein erster Roman. In seinem Essay "Verlorene Sprache", der sich im Anhang des Buches findet, bezeichnet Borbély sich als kulturellen Migranten. "Im Interesse der erfolgreichen kulturellen Migration ist es bei uns ... nicht genug, das Dorf, die bäuerliche Welt zu verlassen, man muss sie auch verraten, weil sie nicht salonfähig ist. Sie riecht nach Dung. Warum das so ist, darauf habe ich in der biographisch grundierten, das heißt eingeschränkten Fiktion Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg? eine Antwort gesucht."

Erinnerung als Fiktion

Borbély schreibt nicht chronologisch, sondern wie in immer neuen Anläufen, wodurch es zu interessanten Verdoppelungen und Widersprüchen kommt. Er hätte gern, schrieb er in seinem Essay "Auch die Erinnerung ist Fiktion","ein Gleichnis davon erzählt, dass es keine Erinnerungsgemeinschaft gibt, sondern nur Fiktionen, Lügen und Selbstmitleid, Bedauern und Argwohn wie in den Geschichten meines Großvaters und meiner Mutter. Die Ketten des Familiengedächtnisses, die noch bis ins siebte Glied vorhandenen Flüche und Sünden sind nur durch kathartische Rituale zu besiegen: durch das Eingeständnis der Schuld, die aufrichtige Reue und Bitte um Verzeihung, durch die Vergebung, die man sich erarbeitet. All das ist wie jedes religiöse und gesellschaftliche Ereignis eine gemeinschaftliche Handlung. Wir aber sind noch immer einsam -oder ungläubig."

Die Veröffentlichung der deutschsprachigen Übersetzung seines beeindruckenden Romans hat der Autor selbst nicht mehr erlebt. Vor einem Jahr, am 19. Februar 2014, hat sich Szilárd Borbély in Debrecen das Leben genommen.

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