Theater, das seine Gesellschaft befragt

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Béla Pintér thematisiert in "Titkaink/Unsere Geheimnisse" nicht nur die 1980er Jahre in Ungarn, sondern auch die Gegenwart.

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Béla Pintér thematisiert in "Titkaink/Unsere Geheimnisse" nicht nur die 1980er Jahre in Ungarn, sondern auch die Gegenwart.

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Das postsozialistische Ungarn tut sich schwer mit seiner Vergangenheit. In der Gedächtnispolitik unseres Nachbarlandes bilden sowohl der Nazismus oder die Mitverantwortung an der Judenverfolgung ebenso eine Leerstelle wie auch die Zeit des Sozialismus. Mit der Wahl des Rechtspopulisten Viktor Orbán zum Ministerpräsidenten 2010 ist das nicht besser geworden. Ganz im Gegenteil. Unter ihm werden die Geschichtsnarrative zugunsten einer neuen völkischen Nationalgeschichte umgeformt, indem seine mit einer Zweidrittelmehrheit regierende ultrakonservative Fidezs-Partei den gesamten geistigen Überbau der ungarischen Gesellschaft kontrolliert. So wurden in den letzten vier Jahren leitende Posten in Universitäten, Medien und kulturellen Institutionen systematisch mit parteitreuen Leuten besetzt. So wurde etwa der populäre Direktor des Nationaltheaters Róbert Alföldi nach einer üblen Kampagne, bei der sein Theater als obszön, pornografisch und antiungarisch diffamiert wurde und ihm seine Homosexualität und jüdische Abstammung zum Vorwurf gemacht wurde, durch einen regierungsnahen Nachfolger besetzt, der es zu einer Art Kathedrale des ungarischen Nationalstolzes machen soll. Gleichzeitig wird die Lage der regierungskritischen, freien Theaterschaffenden immer prekärer, mussten die meisten von ihnen Subventionskürzungen von 50 Prozent und mehr hinnehmen.

Spirale aus Erpressung und Denunziation

Zu den herausragendsten freien Theatermachern gehört neben Viktor Bodo, Árpád Schilling, Kornél Mundruczó, die schon bei den Festwochen zu Gast waren, auch der 1970 geborene Béla Pintér. Der Regisseur, Schauspieler und Autor zeigt nun bei den Wiener Festwochen sein aktuellstes Stück "Titkaink /Unsere Geheimnisse", in dem er die Zeit vor der Wende thematisiert, nicht ohne Seitenhiebe auf die gegenwärtige Lage unter Orbán. Das Stück spielt in den 1980er Jahren und erzählt auf gleichermaßen vergnügliche wie beklemmende Weise die tragische Geschichte des Volksliedforschers István Balla Bán. Dieser etwas klobige, aber gutmütig wirkende Mann trägt ein furchtbares Geheimnis mit sich. Er ist in seine siebenjährige Stieftochter verliebt. Als er einer Psychologin in einem himmelschreiend komischen Dialog die verbotene Liebe gesteht und vergebens nach einer therapeutischen Behandlung dieser pädophilen Neigung verlangt, ahnt er nicht, dass der große sozialistische Bruder mithört. Das ändert sich jäh, als er in die Zentrale der Geheimpolizei zitiert wird. Der Staat will aus seiner Neigung Profit schlagen. Er solle fortan im Tanzhaus, wo er sich engagiert und wo die Geheimpolizei die Herkunft der regimekritischen Untergrundzeitung "Eiserner Vorhang" vermutet, seine Freunde bespitzeln. Die Spirale aus Abhängigkeit, Erpressung und Denunziation dreht sich nun unaufhaltsam nach unten. Obwohl er gegen seine Krankheit kämpft, kommt es zum Missbrauch. Schließlich geht auch seine Ehe in Brüche, als seine Frau, die nichts von seiner pädophilen Veranlagung ahnt, merkt, dass er gar nicht impotent ist, sondern das Interesse an ihr verloren hat. Auch seinen besten Freund verrät er, macht dessen zehnjährigen Sohn betrunken, ersticht sich aber mit einem Küchenmesser, kurz bevor er sich an ihm vergeht.

Die große Kunst von Pintérs Theater ist die Leichtigkeit, mit der er ernste Themen verhandelt, sowie die Doppelbödigkeit seiner fein geschriebenen Dialoge, die das eine sagen, aber stets auch das andere meinen. Dieses Theater ist wichtig für Ungarn und man wünscht sich die Rückverwandlung Ungarns in ein Land, das es ertragen würde, dass das Theater seine Gesellschaft und Geschichte kritisch befragt, statt es finanziell auszuhungern und mundtot zu machen.

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