Theater der Schönheit und der Grausamkeit

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Die Wiener Festwochen machen Megalomanie möglich und zeigen Jan Fabres 24 Stunden dauerndes Überwältigungstheater aus Antwerpen.

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Die Wiener Festwochen machen Megalomanie möglich und zeigen Jan Fabres 24 Stunden dauerndes Überwältigungstheater aus Antwerpen.

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Klar, dass ein Theater, das 24 Stunden dauert, mit herkömmlichen Kriterien kaum zu beschreiben ist. Und auch klar ist, dass der, der sich dem aussetzt, darüber kaum objektiv schreiben kann. Der Berichterstatter gibt zu, dass er sich der Magie nicht hat entziehen können.

Das Vertraute hinter sich lassen

Gerade darum, sich berühren zu lassen, geht es dem belgischen Autor, bildenden Künstler und Choreographen Jan Fabre. Seit den späten 80er-Jahren sucht er nach einem Theater ohne Tabus, einem Theater der Überschreitung, das den Zuschauer verstört, das ihn schmerzt, das nicht harmlos an ihm vorübergleitet. Aus diesem Grund hat er sich immer wieder mit der Frage nach der heutigen Form von Tragödie beschäftigt. Für Aristoteles war sie ihrem Wesen nach eine kultische Handlung, die auf den Zuschauer zielte und die, wenn Heilung, Läuterung, Katharsis, um die es ging, möglich sein sollen, vor allem als Attacke auf ihn zu verstehen war.

Nun kann das gemeinsam mit dem Komponisten Dag Taeldeman und dem Autor Jeroen Olyslaegers entwickelte "Mount Olympus. To Glorify the Cult of Tragedy" als Summe von Fabres Bemühungen um eine Ästhetik der Überschreitung gesehen werden. Denn tragische Kunst oder vielleicht gar die Erfahrung des Tragischen ist nach Fabre nur möglich, wenn wir das Herkömmliche, das Vertraute hinter uns lassen, wenn das Gewohnte durch eine besondere Form und Zäsur suspendiert wird.

Auf dem Papier ist Fabres Überwältigungskonstrukt ein Parforceritt durch die griechische Antike. In vierzehn Kapiteln und insgesamt 120 mehr assoziativ denn dramaturgisch miteinander verbundenen Szenen versammelt er ihre zahllosen tragischen Helden und Heldinnen und ihre blutigen Konflikte. Wir begegnen von Dionysos, dem sterblichen Sohn von Zeus und Gott der Fruchtbarkeit, der Freude und des Wahnsinns, über Herakles Jason und Medea, die in einem Anfall von Raserei oder aus Rache ihre Kinder töten, auch noch Hekabe, Phaidra, Antigone, Elektra, Agamemnon, Ödipus, dem großen griechischen Helden des trojanischen Krieges Ajax und vielen anderen mehr.

Auf der Bühne ergab diese Versammlung des Who is Who der griechischen Mythologie ein bildermächtiges, archaisches, blutiges, rauschhaftes Theater, näher an der Performance und am Tanz als am Schauspiel. Denn ganz in der Tradition von Antonin Artauds "Theater der Grausamkeit" ist im Hinblick auf seine Darsteller dieses Theater dem Agon verwandt, dem Wettkampf der Athleten und Künstler in der griechischen Antike.

Schonungslos bis zur Erschöpfung

Da müssen die fast immer nackten Performer schon mal 20 Minuten Seilspringen, und dazu Textstellen von der Ankunft der Feinde auf eine Weise rezitieren, die an den Drill amerikanischer Marinesoldaten aus Kubriks Full Metal Jacket erinnert. Die schonungslose körperliche Verausgabung ist ästhetisches Mittel, Gewalt, Krieg und Tod zu erzählen. Durch schier endlose Bewegungsund Textwiederholungen verknüpft Fabre Illusion mit der Wirklichkeit. Die Performer wiederholen ihre wenigen Sätze so oft, bis sie sie fühlen, die körperlichen Exerzitien werden so lange wiederholt, bis die Erschöpfung Realität wird. Überhaupt ist der Körper der zentrale Punkt von Fabres Affekt-Ästhetik. Deshalb zeigt er ihn auch so schonungslos. Da gibt es einen Penistanz, da werden blumengeschmückte Vaginas präsentiert oder Frauen ziehen daraus lange Textbänder, eine Männerhand verschwindet in einem Anus usw. Das wirkt aber nie aufgesetzt oder um des Skandals willen. Es gehört einfach so. In den Blick gerät dadurch, was uns die antiken Texte auf so direkte Weise erzählen: Was der Held ist. Nämlich ein Mensch und damit verletzlich und sterblich. Fabres Theater geht es nicht um Sinn und Moral. Es geht darum, Verdrängtes hervorzuholen, Vernunft zu unterlaufen. Es geht ihm aber um eine Wahrhaftigkeit und um Wahrheit. Die Wahrheit des Körpers, der der Mensch ist. Und Menschsein heißt bei Fabre Begehren, Kampf, Tod, heißt Sperma, Blut und Tränen.

Nur die Raumsituation der Halle E im MQ trübte dieses großartige Theaterfest ein wenig. Das, was sich auf der Bühne abspielte, geriet mitunter zur Groteske, wenn beispielsweise die von Ajax getöteten Leichen zu einer wunderbaren Arie von Händel bestattet und Theaterbesucher lauthals ihre Plätze einforderten. Sind nummerierte Platzkarten für eine 24-stündige Aufführung sinnvoll? Zudem hätte eine weniger dichte Bestuhlung Not getan, so dass beim unausweichlichen Rein- und Rausgehen nicht eine ganze Sitzreihe hätte aufstehen müssen.

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