Am 11. Juni verstarb in Wien der reformierte evangelische Theologe Kurt Lüthi im 86. Lebensjahr. Sein theologisches Spektrum reichte vom christlich-jüdischen Dialog zur Sexualethik, vom Gespräch mit dem Marxismus bis zum kritischen Jorunalismus bis zur Frauenemanzipation.
Kurt Lüthis theologisches Spektrum reichte vom christlich-jüdischen Dialog zur Sexualethik und vom Gespräch mit dem Marxismus zum ökumenischen Dialog, vom kritischen Journalismus zur Emanzipation der Frauen, von der Hochschulpolitik bis zur Friedensbewegung. Einen besonderen Schwerpunktsetzte er beim Dialog der Theologie mit moderner Kunst, vor allem mit Malerei und Literatur. Er war bestimmt einer der wenigen evangelischen Theologen der 50er und 60er Jahre, die internationale Kunstzeitschriften lasen. Da berichtet er, dass er 1960 in einer davon ein Inserat lesen konnte: „Die Galerie nächst St. Stephan repräsentiert en permanence die Elite der heutigen Malerei in Österreich.“
Kurt Lüthi und Otto Mauer
Als er 1964 an die Evangelisch-Theologische Fakultät der Universität Wien berufen wurde, konnte er sich vom Wahrheitsgehalt dieses Inserates selbst überzeugen. Bald entwickelte sich ein enger Kontakt zur Galerie nächst St. Stephan und insbesondere zu Msgr. Otto Mauer. Beide hatten die Herausforderung der modernen Kunst an Kirche und Theologie aufgenommen, beide waren von grundlegenden theologischen Überlegungen französischer Dominikaner geprägt, zu nennen ist in erster Linie das Werk von Pie-Raymond Règamey (1900–96) „Kirche und Kunst im 20. Jahrhundert“, das 1954 erschienen ist.
Lüthi beteiligte sich an den internationalen Kunstgesprächen der Galerie, schon im ersten Jahr in Wien sprach er über „Humanität und Kunst“, dann zum „Ende des Christusbildes?“ und über „Erotische Kunst im 20. Jahrhundert“. Besonders für die evangelische Theologie seiner Zeit sah Lüthi ein massives Defizit. Moderne Kunst wurde, falls sie nicht einfach ignoriert wurde, entweder christlich vereinnahmt oder schlichtweg verteufelt. Erst die von Lüthi für die Theologie generell eingemahnte Haltung des Dialogs führt zu einem fruchtbaren Gespräch zwischen Theologie und Kunst. Dabei darf die „Humanisierung und Profanisierung“, die die Kunst als Kennzeichen der Moderne prägen, nicht bejammert werden, sie sind im Gegenteil gerade aus evangelischer Sicht zu begrüßen. Allen Versuchen, eine „christliche Kunst“ entweder am Sujet des Kunstwerks oder gar am Glauben des Künstlers oder der Künstlerin festzumachen, ist der Abschied zu geben.
Dialog mit Kunst und Literatur
Schon im Jahr 1961 hat Kurt Lüthi „Theologische Bemerkungen zum Selbstverständnis der modernen Malerei“ veröffentlicht, in denen er die programmatische Rede von der Theologie als Dialog mit der Welt entfaltet. Die zeitgenössische Theologie ist fähig zum Dialog mit Kunst und Literatur. Warum? Weil sie von Luther herkommend etwas um Inkarnation und Menschwerdung und damit auch Alltäglichkeit Gottes weiß. Theologie und moderne Malerei stehen im „Ringen um den Menschen Seite an Seite“. Dieser inkarnatorische Gedanke, der sich ganz ähnlich auch bei Otto Mauer findet, eröffnet den Zugang zum „großen Realen“, wie es etwa bei Joseph Beuys oder Hermann Nitsch zu sehen ist.
Evangelische Theologie kommt aber auch von Johannes Calvin her, der die Distanz zwischen Gott und Mensch betonte – Gott ist im Himmel und du bist auf der Erde, sagt Karl Barth. Der reformierte Theologe kommt von der Tradition des Bilderverbotes zu ähnlichen Einsichten wie der Katholik Otto Mauer, der sich gegen jede Vergötzung und Mythisierung des Bildes ausgesprochen hat.
Dieser zweite Zugang eröffnet den Blick auf das „große Abstrakte“, für das Kasimir Malewitsch, Marc Rothko oder Barnet Newman stehen. Für Theologie und Kirche bedeutet das, in so gelebter Zeitgenossenschaft den Mut zum fraglichen Sein einzubringen. Damit versucht Lüthi, den Mut zum Sein, der nach Paul Tillich den Glauben ausmacht, unter den heutigen Bedingungen der radikalen Fraglichkeit allen Seins auszudrücken. Kunst und Theologie stehen spätestens seit 1945 und den Erfahrungen von Auschwitz und Hiroshima, aber im Grunde schon seit der Katastrophe des „Abendlandes“ im Ersten Weltkrieg vor der erschreckenden Tatsache dieser radikalen Fraglichkeit
Aus dieser Haltung des Dialogs ist es Kurt Lüthi gelungen, öffentliche Theologie im besten Sinn des Wortes zu treiben. Er ist meines Wissens der erste evangelische Theologe hierzulande, der mit einem theologischen Buch die Öffentlichkeit interessieren konnte. Das war „Gottes neue Eva“, ein „Bravourstück“, wie es sein Freund, Kollege und Weggefährte Wilhelm Dantine nannte, oder eine „Zeitbombe“ (Sigrid Löffler). Am 6. Februar 1979 prangte „Gottes Neue Eva“ auf der Titelseite des profil.
Theologie der Befreiung für Europa
Welche Herausforderungen sah Lüthi für die Kirche heute? „Ich erwarte als Kirche in der Welt von heute eine ‚offene Kirche‘. Damit geht es darum, dass Kirchen ‚Mut zum Dialog‘ entwickeln.“ Wie erwirbt sich nun Kirche diese dialogische Kompetenz? Nach Lüthi, indem sie sich als Theologie der Befreiung für Europa versteht. „Diese Theologie ist auf Themen wie Friedensethik, Ethik der Geschlechter, Verhältnis von zeitgenössischer Kunst und Religion, Tiefenpsychologie und Theologie beziehbar.“ Der grundlegende Impuls der Befreiung aus der Exodus-Tradition ist demnach mit Befreiungsbemühungen der heutigen Gesellschaft in Beziehung zu bringen. Für diesen Ansatz gingen Generationen evangelischer Theolog/inn/en bei ihrem Professor Kurt Lüthi in die Lehre, mit diesem Ansatz gelingt es Theologie und Kirche auch in der Zeit der globalen Krise, die Botschaft des befreienden Evangeliums glaubwürdig zu leben.
* Der Autor ist Bischof der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich
Kurt Lüthi
Der 1923 im Kanton Bern Geborene studierte u.a. bei Karl Barth in Basel und war ab 1949 reformierter Pfarrer. Ab 1964 war er bis 1990 Professor für Systematische Theologie H.B. an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien. 1978 landete er mit seinem Buch „Gottes neue Eva. Wandlungen des Weiblichen“ einen „theologischen“ Bestseller.
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