Tief sitzende Neigung zum Negativen

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Ein Kongress in Graz bot ein Forum für Positive Psychologie und beleuchtete Ansätze zur Potenzialentfaltung.

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Ein Kongress in Graz bot ein Forum für Positive Psychologie und beleuchtete Ansätze zur Potenzialentfaltung.

Nehmen wir an, ein Arbeitnehmer erhält ein Feedback zu seiner beruflichen Leistung. Der Chef weiß neun positive und einen negativen Punkt ins Treffen zu führen. Es wird der negative Punkt sein, der ihn oder sie fortan beschäftigt. Oder es taucht ein Schmerz im Knie auf: Die Aufmerksamkeit wird hineingesogen, so dass der ganze Körper zum problematischen Knie zu werden droht. Oder zwei Menschen liegen in der Gehirn-Scan-Röhre, wo ihnen mit gleicher Lautstärke zwei Melodien vorgespielt werden - eine angenehm, die andere unangenehm. Wie man aus Studien weiß, wird das Gehirn viel stärker auf die unangenehme Musik reagieren. Das Gleiche gilt übrigens auch für die Gewinn-und Verlustwahrnehmung: 100 Euro zu gewinnen, ist ganz okay, aber die gleiche Summe zu verlieren, ist schon schwer zu tolerieren. Unser Körper, so lässt sich folgern, ist überempfindlich gegenüber negativen Reizen.

Woher aber kommt dieser tief verwurzelte Hang zum Negativen? Es handelt sich um eine Tendenz unserer Aufmerksamkeit, eine Schieflage der Wahrnehmung, die in unseren Genen und Nervenstrukturen angelegt, wie der USamerikanische Psychologe Rick Hanson beim dritten Kongress zu "Denk-und Handlungsräumen der Psychologie" in Graz erläuterte (s. Interview rechts).

Bei unseren Vorfahren entwickelte sich das Nervensystem über Hunderte Millionen von Jahren. Ihr Leben war durch zwei Notwendigkeiten bestimmt: Sie mussten Essen besorgen und Gefahren wie Raubtiere vermeiden. Wenn sie das Essen heute nicht besorgten, bekamen sie morgen auch noch eine Chance. Wenn sie aber daran scheiterten, eine Gefahr zu umgehen, war das mitunter tödlich - alle Chancen waren verspielt. Negative Erfahrungen waren zwar seltener als positive. Aber sie waren weitaus dringlicher, denn sie hatten größeren Einfluss auf unser Überleben. Somit laufen wir heute mit einem Gehirn herum, das ständig nach "Bad News" Ausschau hält - und daran hängen bleibt, wenn es diese findet.

"Positive Leadership" und "neue Autorität"

Wie die Entfaltung positiver Potenziale angesichts dieser Ausgangssituation gelingen kann, stand im Zentrum des Kongresses, der von der Akademie für Kind, Jugend und Familie in Graz ausgerichtet wurde. Die Vortragenden kamen aus aller Welt: Kim Cameron, Wirtschaftsprofessor aus Chicago, referierte über sein Kernthema der "positiven Führungsqualitäten", wobei er Werkzeuge für herausragenden Erfolg präsentierte. Der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther sprach über Potenzialentfaltung in individuellen Gemeinschaften; und der klinische Psychologe Haim Omer von der Universität in Tel Aviv erläuterte seine Thesen zur "neuen Autorität" in der Erziehungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen. "Unser Gehirn ist darauf getrimmt, für unser Überleben, aber eher gegen unsere Lebensqualität zu arbeiten", resümierte Rick Hanson. Wie der Kongress in Graz verdeutlichte, gibt es ein wachsendes Spektrum von Wegen, diese tief sitzende Neigung zu durchbrechen.

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