Tiefes Atemholen in einer atemlosen Zeit

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Menschen tun es, aber auch Vögel, Fische oder Ameisen. Was Sie schon immer über das Gähnen wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.

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Menschen tun es, aber auch Vögel, Fische oder Ameisen. Was Sie schon immer über das Gähnen wissen wollten, aber nie zu fragen wagten.

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Begonnen hat alles mit dem Lachen. Oder noch grundlegender, mit dem Atmen. Peter Cubasch ist nicht nur Pädagoge und Psychotherapeut, sondern auch Lachtrainer und Atemtherapeut. Der gebürtige Bremer ist Gründer und Leiter der Wiener Atemschule sowie des "Lach- und Atemforums Austria". Nach einem Seminarbesuch hatte er Gefallen am "Lach-Yoga" gefunden, einem Programm aus Atem-, Dehn-und Pantomime-Übungen, die zum Lachen anregen, was wiederum positive Effekte für die körperliche und geistige Gesundheit zeitigen soll. Cubasch reiste sogar zweimal nach Indien, um diese Methode des "Lachens ohne Grund" direkt beim Erfinder, dem Arzt Madan Kataria, in Mumbai zu erlernen. Seine Auseinandersetzung damit ist in das Buch "Lachen verbindet"(edition wolkenburg) eingeflossen, das heuer in einer zweiten aktualisierten und stark erweiterten Auflage erschienen ist.

Vom Atmen und Lachen ist es nicht mehr weit zum Gähnen. "Mir ist aufgefallen, dass das Gähnen oft spontan nach dem ausgiebigen Lachen auftritt - das hat dann mein Interesse geweckt", erzählt Cubasch im Gespräch mit der FURCHE. Er begann, sich für die junge Disziplin der Chasmologie, die Wissenschaft vom Gähnen, zu interessieren (gr. "Chasma": Schlund, Höhle; Anm.). Der Name dieses Fachgebiets wurde von einem niederländischen Psychologen geprägt, der im Jahr 2004 eine höchst ungewöhnliche Doktorarbeit verfasst hat: "Das Gähnen ist eines der rätselhaftesten Phänomene des Universums, vielleicht sogar das rätselhafteste", schrieb Wolter Seuntjens in seiner Dissertation an der Freien Universität Amsterdam. Darin beschäftigte er sich auch mit dem Zusammenhang von Gähnen und Sexualität und beschrieb rudimentäre Ähnlichkeiten von Niesen, Gähnen und Orgasmus.

Das latente "Gähnverbot"

Was genüsslich gähnende Babys oder Tiere schon auf den ersten Blick verraten, zeigen nun auch wissenschaftliche Untersuchungen: Gähnen wird mehrheitlich als ausgeprägt lustvoll empfunden. Doch der kulturelle Umgang damit ist irgendwie verklemmt. Das wusste ein Schweizer Arzt bereits 1892 in einem Fachartikel auf den Punkt zu bringen: "Davon zu sprechen, schickt sich nicht; es zu tun, ist unanständig; und darüber nachzudenken, ist langweilig." Tatsächlich ist das menschliche Gähnen sehr früh der kulturellen Kontrolle unterworfen und durchaus "schambesetzt", wie Cubasch erläutert. Dieser natürliche Vorgang, der bei kleinen Kindern noch so entzückend erscheint, wird im Zuge von Erziehung und Sozialisation rasch eingedämmt und "zurechtgestutzt". Viele Menschen gehen dazu über, den Prozess des tieferen Atemholens sogar willkürlich zu unterdrücken. In seinem Buch "Gähnen" (HCD, 2016) hat der Psychotherapeut die Hintergründe des latenten "Gähnverbots" in vielen Situationen beschrieben: "Die Fähigkeit zur Regulierung unserer Impulse und zum Bedürfnisaufschub ist durchaus positiv zu bewerten und hat viele Vorteile (...). Wenn die geforderten Verhaltensweisen oder Unterlassungen jedoch zu starren, inneren Selbstzwangmechanismen werden, die Spontanität verhindern und uns das Gefühl der Lebendigkeit rauben, dann ist der Preis dafür zu hoch: Verinnerlichter Fremdzwang und automatisierter Selbstzwang verursachen Muskelverspannungen und manchmal sogar körperliche, psychosomatische oder soziale Erkrankungen."

Gähnen ist heute mehr denn je ein Atemholen in einer atemlosen Zeit: Angesichts der durch Beschleunigung, Hyperaktivität und allzeitiger Leistungsbereitschaft geprägten kulturellen Entwicklung ist davon auszugehen, dass dieser physiologische Vorgang auch weiterhin nicht besonders gut angesehen sein wird. Dagegen macht Peter Cubasch mobil.

Dehnen, Räkeln und Strecken

"Beim Gähnen befreit sich der Körper wie von selbst", sagt der 67-jährige, reißt den Mund auf und streckt seine Arme von sich. "Der spontane, intensive Atemimpuls ist oft automatisch mit einem Dehnen, Räkeln und Strecken verbunden. Das ist eine raumgreifende Bewegung, die mit unserem natürlichen Rhythmus zu tun hat." Gähnen ist ein ursprünglicher und gesunder Körperausdruck, betont Cubasch; es baut Stress ab, stimuliert das Gehirn, belebt und entspannt zugleich. Auf Basis der Gähnforschung, der Atemtherapie (nach Herta Richter) und der Integrativen Bewegungstherapie hat er eine systematische "Gähnpraxis" entwickelt, die 2014 als CHASMO-Training® vom Österreichischen Patentamt als eingetragene Marke registriert worden ist. Mit Bewegungs-, Dehn-und Stimmübungen soll das Gähnen hier spielerisch angeregt werden. Der Gähnvorgang wird "gelockt", wie der ehemalige Universitätslehrer sagt. Entspannung und Gesundheitsförderung, Atemschulung und Stimmbildung stehen dabei auf der Agenda.

"Wir spüren am eigenen Leib, wie gut es uns tut", so Cubasch, der sich auf uraltes Erfahrungswissen beruft. Gähnen sei etwas existenziell Menschliches, es habe eine kreative, eine therapeutische und eine präventive Dimension. Im Gegensatz zum Lachtraining aber liegen bis heute nur wenige Studien und Erkenntnisse zu den nützlichen Aspekten des Gähnens vor. "Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, dass gezielt eingesetztes Gähnen bei Menschen mit Spannungskopfschmerz oder nächtlichem Zähneknirschen (Anm.: Bruxismus) medizinisch hilfreich ist", meint der Therapeut, der sich bei diesem Thema noch "allein auf weiter Flur" sieht. Bis jetzt sind es nur wenige Forscher, die im Gähnen eine Schatzkiste für die Gesundheit vermuten. Erst seit den 1980er-Jahren formiert sich ein wissenschaftliches Interesse, 2010 fand in Paris der erste Kongress zur Gähnforschung statt.

Bereits vor der Geburt, ab der elften Schwangerschaftswoche, beginnt der Mensch zu gähnen. Babys gähnen im Schnitt 25- bis 30-mal, Erwachsene circa sieben bis zehn Mal pro Tag. Warum Menschen überhaupt gähnen, dafür gibt es zwar viele Theorien, aber noch kaum zufriedenstellende Antworten. Gähnen wir, um dem Gehirn vermehrt Sauerstoff zuzuführen oder um das Gehirn abzukühlen? Um einen Druckausgleich im Ohr herzustellen oder um wach zu bleiben und die Aufmerksamkeit zu steigern? Um körperliche und emotionale Spannungen zu regulieren oder um anderen Menschen etwas wortlos mitzuteilen? Aus der Tierwelt ist bekannt, dass das Gähnen auch zur Synchronisation von Wach- und Schlafrhythmen, Fresszeiten und Jagdaktivitäten dient. Und auch Menschen verwenden es als soziales Signal - etwa wenn der Gastgeber dezent zu verstehen gibt, dass die Gäste nun allmählich nach Hause gehen sollten.

Impulse aus dem "Reptilienhirn"

Beim Gähnen schwingt ein uraltes biologisches Erbe mit. Spontane Gähnimpulse kommen von ganz unten - aus dem Stammoder "Reptilienhirn", das als älteste Gehirnregion am Beginn der individuellen und evolutionären Entwicklung steht. Aber auch das relativ junge Großhirn ist beteiligt: Es ermöglicht uns den Entschluss, hemmungslos zu gähnen, mit der Hand den Mund zu bedecken oder den Vorgang lieber bewusst zu unterdrücken.

Gähnen ist ansteckend, das weiß schon der Volksmund. Mitunter aber reicht es auch, ein Buch über das Thema zu lesen, um selbst ins Gähnen zu kommen. "Manchmal kann willkürliches Gähnen eine wahre Gähnflut auslösen", schreibt Peter Cubasch. "Dann rollen mehrere Gähnwellen im Abstand von etwa 50 Sekunden heran. Dies ist meist ein Zeichen dafür, dass über einen langen Zeitraum nicht auf eine gute Balance zwischen Anstrengung und Erholung (...) geachtet wurde. Genießen Sie die Gähnflut, sie ist nicht schädlich, im Gegenteil: Der Körper holt sich, was er braucht. Vertrauen Sie seinen Signalen und lassen Sie sich beleben!"

Gähnen

Der natürliche Weg zu Entspannung und Wohlbefinden.

Von Peter Cubasch. HCD Verlag 2016. 163 Seiten, kart., € 21,30

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