Tod und Terror durch Jugendbanden

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16 Morde - pro Tag: Angst und Gewalt gehören zum Alltag. Es ist noch schlimmer als im Bürgerkrieg, sagen die Leute. El Salvador am Vorabend der Seligsprechung.

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16 Morde - pro Tag: Angst und Gewalt gehören zum Alltag. Es ist noch schlimmer als im Bürgerkrieg, sagen die Leute. El Salvador am Vorabend der Seligsprechung.

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Schön, wieder zu Hause zu sein, sagt die Kanadierin salvadorianischer Herkunft, die in einem kleinen Hotel der Hauptstadt San Salvador abgestiegen ist. Aber der Grund für ihre Reise ist alles andere als erfreulich. Ihre Eltern haben von den Maras - kriminellen Jugendbanden, unter denen das Land stöhnt - eine schriftliche Aufforderung erhalten, das Haus zu verlassen. Andernfalls würden sie getötet. In El Salvador ist man schlecht beraten, eine solche Warnung zu ignorieren. Polizei? "Die kann dich in einem solchen Fall nicht schützen", sagt die Frau. Die Geschichte ist kein Einzelfall. Etwa zwei Drittel aller Salvadoreños leben im Einflussgebiet der Jugendbanden, viele von ihnen in ständiger Angst.

Auf den Werbeplakaten einer Immobilienfirma ist von "Grünruhelage" nicht die Rede. "Sicherheit für die ganze Familie" ist das zentrale Verkaufsargument. In der Zeitung stehen die jüngsten Zahlen: Im März 2015 wurden in El Salvador offiziell 16 Morde registriert - pro Tag.

Ein unvorstellbarer Gewaltpegel

Padre Luis Salazar leitet die katholische Pfarre "Maria, Mutter der Armen" in La Chacra, einem Siedlungsgebiet am Stadtrand von San Salvador. Gewalt und Angst gehören hier zum Alltag. "Vergangenen Freitag", erzählt der Pfarrer, "haben sie einen Anwalt getötet - auf dem Pfarrgelände, vor den Augen von Kindern." Die Einschüchterung wirkt. Salazar erzählt von einem Jugendlichen, der nicht mehr zur Schule gehen kann. Bandilleros haben ihm verboten, "ihr" Gebiet zu betreten. Die Maras entstanden unter jungen Leuten, die zur Zeit des Bürgerkriegs in die USA geflüchtet waren. Nach dem Krieg mussten sie zurück nach El Salvador und brachten die Bandenkriminalität mit. Sie sind auch selbst Opfer: entwurzelt, verarmt und mit sehr geringer Lebenserwartung. Padre Salazar hat sich die Gewaltprävention zur Aufgabe gemacht. Gemeinsam mit anderen Organisationen und Religionsgemeinschaften hat er einen Aktionsplan ausgearbeitet und möchte La Chacra zu einer "Zone des Friedens" machen. Ein ambitioniertes Projekt. Die Seligsprechung Monseñor Romeros bedeutet für ihn gleichermaßen Freude und Herausforderung.

Auch als Óscar Romero 1977 Erzbischof von San Salvador wurde, war der Gewaltpegel im Land dramatisch hoch. Die herrschenden Oligarchen verteidigten ihre Privilegien, Soldaten und "Todesschwadronen" gingen brutal gegen die sich organisierenden Bauern vor. In der Nacht und in Unterhosen, erzählt eine alte Frau, habe man die Campesinos ins Freie gezerrt und getötet. Priester, die sich auf die Seite des Volkes stellten, ereilte dasselbe Schicksal -etwa den Jesuiten und Pfarrer von Aguilares, Rutilio Grande, einen Freund Romeros, für den nun ebenfalls ein Seligsprechungsverfahren in Gang kommt. Monseñor Romero war ein Ärgernis für die Mächtigen, weil er das Morden öffentlich anprangerte, sich auf die Seite der Unterdrückten stellte und die Soldaten zur Befehlsverweigerung aufforderte. Bei seinem Begräbnis zielten Scharfschützen aus dem Hinterhalt auf die Menge und richteten ein Blutbad an. Das war der Auftakt zum Bürgerkrieg, der etwa 70.000 Menschen das Leben kosten sollte.

Die Geschichte ist nicht vergangen

Das alles ist Geschichte, aber vergangen ist sie nicht. In Jayaque, einer kleinen Kaffeestadt westlich von San Salvador, flattern nach den Bürgermeisterwahlen noch die Parteifähnchen im Wind. Arena, die weit rechts stehende "Nationalistische Republikanische Allianz", prägt das Bild an der Hauptstraße, während in einem angrenzenden Viertel die FMLN, die Partei der ehemaligen linken Guerilla, zu Hause ist. "In Jayaque hatten immer die Kaffeebarone das Sagen", erzählt eine Stadtbewohnerin.

In der Kirche stehen zwei alte Damen vor einer Romero-Statue. Sie können sich gut an den Erzbischof erinnern. Seine Predigten hörten sie über Radio; Fernsehen gab es zu dieser Zeit noch kaum. Ein Prophet, sagt Carmen Ramírez, ist einer, der nicht nur ankündigt (anuncia), sondern auch anklagt (denuncia). Romero war ein Prophet.

Allerdings: Wirklich besser ist es seither nicht geworden. "Ich glaube, jetzt ist es noch schlimmer als im Krieg", sagt Carmen, "Jeden Tag bringen sie jemanden um." Die Ursachen liegen für sie auf der Hand: Armut und mangelnde Bildung. Dazu kommt die Straflosigkeit (impunidad). Mittels Generalamnestie wurden nach dem Friedensschluss auch Mörder reingewaschen - ein Bärendienst an der Gesellschaft.

In Santa Tecla fliegen Taubenschwärme waghalsige Manöver über die Plaza. Die hübsche Stadt mit knapp 200.000 Einwohnern hat seit 1. Mai einen neuen Bürgermeister: Roberto D'Aubuisson junior. Vermutlich hatte er noch keine Zeit für einen Stadtspaziergang, denn auf einem Baum hängt noch ein Plakat, das ihn nicht freuen kann. Es erinnert daran, dass sein Vater, Roberto D'Aubuisson senior, der Gründer der Arena-Partei, als Drahtzieher des Romero-Mordes gilt. In San Salvador hat die Arena-Regierung eine große Straße nach D'Aubuisson benannt. "Prophetenmörder!" schreit dort ein Graffito, gleich neben einer Romero-Darstellung. Aber auch San Salvador hat einen neuen Bürgermeister. Einer seiner ersten Akte war es, der Straße ihren alten Namen wieder zurückzugeben. Sein Amtskollege in Santa Tecla zeigte sich bestürzt.

Revolutionär? Santo descafeinado?

Die alten Gräben sind noch da; die Seligsprechung ist nicht ohne politische Sprengkraft. Romeros markantes Gesicht mit Hornbrille gehört zum Stadtbild. Die einen verehren ihn mit Che Guevara und Hugo Chávez als linken Revolutionär. Auf der anderen Seite bemühen sich konservative Kreise, einen "Märtyrer der Liebe" darzustellen - einen, der keine Fragen stellt und niemandem weh tut. Ein Santo descafeinado sei das, wenden Kritiker ein, ein Heiliger ohne Koffein und Wirkung. Immerhin, nach der eingehenden Prüfung durch den Vatikan ist dem Vorwurf, Romero sei ein Kommunist und politischer Aktivist gewesen, der Boden entzogen. "Sie fanden einen Mann Gottes und der Kirche, einen Diener der Armen", sagt der bald 90-jährige Ricardo Urioste, seinerzeit Romeros Generalvikar und heute Präsident der Romero-Stiftung.

Brückenschlag auf dem Salvador-del-Mundo-Platz. Soldaten und Angehörige der Guerilla gemeinsam haben ihn besetzt, um auf ihre prekäre Lage aufmerksam zu machen. Sie sind arm, fühlen sich von der Politik verraten. Damals kämpften sie gegeneinander. Das war ein Fehler, sagt ein Soldat. "Wir waren die Betrogenen, weil wir töten mussten. Dabei sind wir alle Kinder Gottes." Jetzt kämpfen sie miteinander für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände. Ein großes Romero-Plakat am Fuß der Erlöser-Säule zeigt, wie wichtig ihnen der ermordete Erzbischof ist, der "Prophet und Märtyrer der Armen." "Wir wollen endlich Frieden", so eine ehemalige Guerilla-Kämpferin: "Wir wollen kein Blut mehr sehen; wir sind müde." Mittlerweile sind hektische Verhandlungen im Gang, denn auf dem Platz findet die Seligsprechung statt. Wenigstens für einen Tag sollen die Veteranen das Gelände räumen, wünschen sich die Verantwortlichen.

Im Rosengarten der UCA - dort, wo 1989 sechs Jesuiten, ihre Haushälterin und deren Tochter, in einer nächtlichen Kommandoaktion erschossen wurden - erinnert der Theologe Jon Sobrino an Óscar Romero. Er zitiert einen Bauern: "Monseñor Romero sagte die Wahrheit. Er hat uns, die Armen, verteidigt. Darum haben sie ihn umgebracht." Sobrino leitet daraus Programmatik für die Kirche ab: Die Wahrheit sagen, die Armen verteidigen, selbst wenn es gefährlich ist.

Romeros Beispiel zwingt in die Gegenwart. Er darf kein "Heiliger für die Vitrine" werden, sagt Padre Luis Salazar. Wer Romero verehrt, kann sich nicht mit der Ungerechtigkeit abfinden. "Heute würde er mit den Maras verhandeln", sagt eine Frau, die ihn gut kannte. "Er würde versuchen, in ihnen den Respekt vor der Menschenwürde zu wecken." Und er würde weiter gegen die Armut angehen, dieses bleierne Erbe, das so vielen Menschen die Zukunft verbaut. 35 Jahre nach seinem Tod bleibt Óscar Romero, was er war: ein Stachel im Fleisch der Mächtigen, unbequem für seine Kirche. Eine machtvolle Stimme gegen die Unterdrückung.

Der Autor ist Dokumentarfilmer und ORF-Religionsjournalist

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