Todesbewältigung für SchulKinder

Werbung
Werbung
Werbung

Wie mit Kindern über den Tod sprechen? Im frankokanadischen Fim "Monsieur Lazhar“ gelingt es erst einem algerischen Aushilfslehrer, einer trauernden Schulklasse zu helfen.

Simon rennt über den verschneiten Pausenhof und redet mit seiner Freundin Alice, die ihn an seine Pflicht erinnert, die Milch zu holen. Dann zieht Simon im Vorbeilaufen einem Freund die Mütze vom Kopf, poltert in die Schule hinein, schlichtet die Pausenmilch in die Transportkiste. Und auch als er zur Klassentür geht, ist die Welt noch in Ordnung. Doch als er durch das Glas ins Klassenzimmer schaut, hört die Welt auf, in Ordnung zu sein. Dass in den folgenden Tagen der Raum neu gestrichen wird, dass eine Psychologin an die Schule kommt und mit den Kindern spricht, dass alle versuchen, von dem abzulenken, was doch wie ein unüberhörbarer Schrei in ihrer Mitte nachhallt, hilft alles nichts: Die geliebte Lehrerin Martine hat sich in der Klasse aufgehängt. An einem Heizungsrohr. Simon hat sie gefunden.

Die ganze Schule ist in emotionaler Schockstarre. Die Direktorin Madame Vaillancourt (Danielle Proulx) weiß nicht weiter. Die neue Wandfarbe, die Psychologin, alles das sind nur kosmetische Maßnahmen. Was wirklich fehlt, ist jemand, der sich der traumatisierten Klasse langfristig annimmt. Aber wie, wenn alle verfügbaren Lehrkräfte in Montréal offenbar beschäftigt sind?

Es könnte eine triste Geschichte sein, die Regisseur Philippe Falardeau in seinem Film "Monsieur Lazhar“ erzählt, nach dem Theaterstück der kanadischen Dramatikerin Evelyne de la Chenelière. Immerhin geht es um trauernde Kinder und um das Überwinden eines Verlustes. Doch mit dem außergewöhnlichen Schauspieler und Komiker Mohamed Fellag in der Hauptrolle, in seiner Heimat Algerien ein Superstar, nimmt der Film eine andere Wendung: Zärtlichkeit, Humor und bedingungsloser Humanismus sind die Zutaten, die aus "Monsieur Lazhar“ einen lebensbejahenden, fröhlichen Film machen.

Das Wunder altmodischer Trauerpädagogik

Als Monsieur Lazhar (Fellag) im Büro der Direktorin anklopft, wirkt er deplatziert, wie ein Möbelstück aus einer anderen, etwas verstaubten Zeit, höflich und mit leichtem Akzent. Er lebe seit Kurzem in Kanada und habe 19 Jahre lang in seiner Heimatstadt Algier unterrichtet. Er habe in der Zeitung von der Tragödie gelesen. Und er sei bereit, die schwierige Klasse zu übernehmen. Was er nicht erzählt, ist, welch schlimmes Schicksal er selbst erlitten hat, warum er ohne seine Familie in Kanada lebt, und dass er eigentlich von der Ausweisung bedroht ist. Stattdessen bemüht er sich nun um ein Rudel verstörter Elf- und Zwölfjähriger, und zwar auf ungewohnt konventionelle Weise: Nachdem er sich bei den Schülern vorgestellt hat, fragt er, ob das so sein muss; ob die Tische wirklich halbkreisförmig stehen müssen. "Martine hat das so gewollt, weil das die Kommmunikation in der Klasse verbessert“, bekommt er zur Antwort. Dann räumt er den Laptop weg, der auf seinem Schreibtisch steht. Und dann beginnt er ein Diktat, aus Balzacs "Das Chagrinleder“. In dem Abschnitt spricht der Erzähler davon, sich aus dem lauten Paris zurückzuziehen zum Arbeiten, wie in ein Grab, so wie eine Schmetterlingspuppe, um seine glorreiche Wiedergeburt abzuwarten. Ein Text, den moderne Pädagogen für elfjährige Schüler wenig geeignet halten würden. Dem altmodischen, etwas seltsamen Monsieur Lazhar, dem Aushilfslehrer, ist das aber egal.

Die erste Schulstunde, die Bachir Lazhar in seiner neuen Klasse hält, macht vor allem die kulturellen Unterschiede zwischen dem 55-jährigen algerischen Immigranten und der fortschrittlichen frankokanadischen Schule deutlich. Doch Bachir Lazhar mag pädagogisch nicht auf dem neuesten Stand sein, dafür ist er der einzige, der wagt, mit ihnen über ihren Verlust zu reden. Doch direkt über Tod, Schmerz und Gewalt im Unterricht zu sprechen widerspricht allem, was überforderte Lehrerkollegen und besorgte Eltern für richtig halten, in einem politisch überkorrekten System, das aus Angst vor Missbrauch Lehrern jeglichen Körperkontakt mit ihren Schülern verbietet. Dabei ist eine tröstliche Umarmung das, was hier womöglich am meisten helfen könnte.

"Monsieur Lazhar“ ist eine vielschichtige, liebevolle Studie zum Thema Trauerarbeit bei Kindern. Die ausgezeichneten Kinderdarsteller wirken keinen Augenblick lang gekünstelt, besonders die altkluge Alice (Sophie Nélisse), die die wichtigste Gesprächspartnerin in der Klasse ist, und Simon (Émilien Néron), in seiner Trauer abstoßend und hässlich wie eine Schmetterlingspuppe. Kraftzentrum des Films ist jedoch Fellag, der Menschlichkeit ebenso wie die Melancholie des Herrn Lazhar eindringlich vermittelt.

Monsieur Lazhar

CDN 2011. Regie: Philippe Falardeau. Mit Fellag, Sophie Nélisse, Émilien Néron, Danielle Proulx, Brigitte Poupart,

Louis Champagne. Thimfilm. 94 Min.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung