Tödliche Gewissheit: Kamikaze in literarischer Gestalt

Werbung
Werbung
Werbung

Selbstmordattentäter sind kein Spezifikum des Islam. Ein Blick in die Literatur zeigt: Der Selbstmord als tödliche Waffe ist sehr alt.

Attentäter haben als höchstes Ziel den Mord. Sie haben dafür einen schwerwiegenden Grund: Die Tat soll einen Menschen oder eine Menschengruppe aus der Welt schaffen, die Übles angestellt haben. Das Attentat ist somit mehrfach abgesichert. Es ist gottgewollt, humanitär erlaubt, von der Gerechtigkeit befohlen, von der Notwendigkeit diktiert, also richtig. Tod einem Mörder ist die Parole. Judith handelt danach, wenn sie Herodes im Schlafe köpft; die Widerstandskämpfer des 20. Juli, die das Deutsche Reich von der Diktatur befreien wollten. Attentäter müssen damit rechnen, dass sie von Häschern in Bande geschlagen werden, dass sie während der Tat von der Security erschossen werden. Sie nehmen den Tod in Kauf, sie haben ihn einkalkuliert, aber nicht von vornherein beabsichtigt.

Beim Selbstmordattentäter ist der eigene Tod nicht mögliche Folge, sondern Mittel zur erfolgreichen Umsetzung der Mordabsicht, geradezu die Voraussetzung für den Erfolg. Der Selbstmord ist nicht Aufopferung um seiner selbst willen, aus Lebensüberdruss, aus subjektiven Gründen, sondern aus objektiven. Er bekommt Sinn als politische Tat, die für den Sieg der "guten" Sache unabdingbar ist.

Eigener Tod in Mordabsicht

Während der Attentäter gleichsam als Nebenprodukt seines Aktes in die Geschichte eingeht oder gar zum Märtyrer ausgerufen wird, ist das an sich selbst vollzogene Martyrium des Selbstmordattentäters vorprogrammiert. Die Möglichkeit davonzukommen hat er sich genommen. Nicht Todesverachtung treibt ihn, sondern tödliche Gewissheit. Er setzt sein Leben ein, um andere zu töten. Er räumt Schuldige aus dem Weg, indem er sich als lebende Bombe in den Weg stellt. Das freiwillige Selbstmordattentat erfolgt aus reinem Gewissen. Bei den muslimischen Selbstmordtätern seit den Assassinen des 11. und 12. Jahrhunderts zudem in der Heilsgewissheit himmlischer Freuden, die darüber hinwegsehen lässt, dass in jüngster Zeit die Opfer in der Mehrzahl "Unschuldige" sind, also Menschen, die nicht unmittelbar an der prekären politisch-sozialen Situation des Attentäters Schuld tragen.

Die Literatur aller Zeiten hat sich diesem Thema nicht entzogen. Seit 9/11 ist eine deutliche Zunahme zu verzeichnen. Romane und Theaterstücke über Selbstmordattentate sprießen allerorts. Genannt seien nur die prominentesten Autoren, John Updike etwa mit "Terrorist" oder Abraham B. Jehoschua mit dem Roman "Die Passion des Personalbeauftragen". Allen ist eines gemeinsam: Sie behandeln ausschließlich Selbstmordterror, der von Angehörigen des islamischen Glaubens ausgeübt wird. Lediglich der israelische Autor David Grossman hat mit "Löwenhonig", wie alle genannten Romane 2006 erschienen, auf den ersten Selbstmordattentäter überhaupt, auf den biblischen Samson, verwiesen. Der HERR hatte ihm übermenschliche Stärke verliehen, die jedoch an die Pracht seines Haupthaars gebunden war. Geschoren konnte er überwältigt und geblendet werden. Was die Philister jedoch in ihrer Torheit nicht bedacht hatten: Haare wachsen nach. Als sie ihn in die vollbesetzte Festhalle führen ließen, um sich an seiner Niederlage neuerlich zu weiden, lässt sich der geblendete Samson zu den tragenden Säulen geleiten und reißt den Palast ein.

Grossman unterlässt die Bemerkung nicht: "Die Schriften unserer Weisen selig enthalten […] kein Wort des Tadels an Samsons letzter Rache."

Der Selbstmordattentäter wurde zu allen Zeiten gefürchtet, gehasst - selten wurde er verachtet. Er setzt sein höchstes Gut für ein vermeintlich höheres Ziel ein. Schützen kann man sich kaum vor ihm. Verfolgt werden kann er nicht. H. M. Enzensberger: "Sein Triumph besteht darin, daß man ihn weder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst."

Hier sollen einige Beispiele aus der abendländischen Literatur beigebracht werden, in denen der Selbstmord als tödliche Waffe eingesetzt wird und in denen der Islam keine Rolle spielt und die auch sonst keine historischen Vorbilder bemühen.

Nicht nur im Islam

1919 erscheint ein neuer Roman des seinerzeit erfolgreichen Autors Otto Soyka (Karl Kraus ließ ihn als Sachverständigen für psychoanalytische Fragen in der "Fackel" schreiben), "Der entfesselte Mensch". Auf der Brücke greift einer Männer, die mit dem Leben abgeschlossen haben, auf, bevor sie sich ins Wasser stürzen - und instrumentalisiert sie für terroristische Zwecke. Sie hatten vom Leben nichts mehr zu fürchten, sie hatten nur noch zu gewinnen - entfesselte Menschen. Tollkühnheit wird ihren Handlungen Erfolg bringen. Soyka hat das Attentats-Schema umgekehrt: Gedungene Mörder bringen um; wenn sie dabei getötet werden, haben sie ihr Ziel, den eigenen Tod, erreicht.

Säkularisiert ist das Selbstmordattentat auch in Joseph Conrads grotesk-sarkastischem Roman "Der Geheimagent", der im London der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts im anarchistischen Milieu angesiedelt ist. Einer, den sie "Professor" nennen, trägt Sprengstoff auf dem Leib und hat vor, wenn er aufgegriffen würde, sich samt seiner Umgebung in die Luft zu sprengen. Sein ganzes Bemühen geht dahin, die Zündvorrichtung zu verbessern. Momentan würde es noch zwanzig Sekunden von der Auslösung bis zur Explosion dauern.

Hellsichtig weiß Conrad schon 1907: "Wenn ein Bombenanschlag heute die öffentliche Meinung beeinflussen soll, so muss es sich dabei um mehr als einen Rache- oder Terrorakt, es muss sich um reine Zerstörung handeln." - "Einzig der Irrsinn ist wirklich furchterregend, da er sich weder durch Drohung, Überredung noch Bestechung beschwichtigen lässt." Und sich nicht religiös motivieren lässt, könnte heute hinzugefügt werden.

Zuvor ist die Literatur, zumal die dramatische, voll mit todbereiten Kriegern, die nicht kämpfen, um zu siegen, sondern um zu sterben, einer Übermacht unterlegen, aber im Bewusstsein, das Leben für die Heimat als zu opfern. Theodor Körners "Zriny", 1812 vor Beginn der Freiheitskriege im Burgtheater uraufgeführt, ist ein monströs patriotisches Beispiel: Es hat dazu getaugt, den bald darauf gefallenen Autor durch Generationen (auch noch in der DDR) als Klassiker zu kanonisieren. Niklas Graf von Zriny geht 1566 im Kampf gegen die überlegenen Türken mit den Worten unter: "Stirb, wackres Volk! für Gott und Vaterland!" Seine Gemahlin setzt noch eins drauf und wirft die Fackel in den Pulverturm des berannten Schlosses, dessen Trümmer Freund und Feind unter sich begraben.

Arthur Schnitzlers Parodie

Fast hundert Jahre später - die Begeisterungswelle für den Ersten Weltkrieg war noch nicht angeschwollen - sieht Arthur Schnitzler solche selbstmörderischen Aktionen als fatalistisch hohlen Selbstbetrug. In seinem Schauspiel "Der Ruf des Lebens" von 1906 geht eine Schwadron bewusst in den Tod. Die Ehre des Regiments war Jahrzehnte zuvor durch einen Feigling vor dem Feind besudelt worden. So nachhaltig, dass sie von der nächsten Generation ehrversessener Militärs gesühnt werden soll. Selbstmordattentäter sind das eben nicht, sie ziehen in die offene Feldschlacht und lassen sich kämpfend niedermetzeln, um vermeintlich verlorene Gemeinschaftsehre wiederherzustellen.

Schnitzlers Stück ist eine verbissen ernsthafte Parodie auf den Todesritt des berühmtesten Selbstmordattentäters der deutschen Literatur. Max Piccolomini hat einen Gewissenskonflikt, er steht zwischen der Pflicht zum Gehorsam seinem Vater Octavio gegenüber und der Neigung zu seinem Übervater Wallenstein, dem er nicht mehr vertrauen kann. Er weiß keinen anderen Ausweg als den erzwungenen Tod des Soldaten, der dabei aber so viele auf ihn verschworene Kürassiere wie möglich mit in den Untergang reißt. Er ist - wohlgemerkt - ein Attentäter, er überfällt des Nachts die Schweden, die ihm nur mit Mühe und unter großen Opfern das gewünschte Schicksal unter den Hufen seiner Pferde bereiten können.

Was täte heute ein junger Mann, der seinen Vater hasst, weil der politisch korrekt lügt und betrügt, und der seinen verehrten Zieh- und Ersatzvater nicht versteht, weil der zum allgemeinen Wohl in die eigene Tasche wirtschaftet und um den Preis des Stellenabbaus den Profit steigert? Geht er hin, legt sich einen zündbaren Gürtel um und sprengt mit sich eine Bank?

Der Autor ist freier Publizist in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung