Toleranz genau gesehen

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"Dann schlafen Sie halt in der Hängematte", sagte man zu Ilse Aichingers Mutter auf dem Wohnungsamt, nachdem Sie in der NS-Zeit Arbeit und Wohnung verloren hatte. Ilse Aichingers erste Kindheitserinnerung: Die Greißlerin bedient sie und ihre Zwillingsschwester nicht, zeigt dann mit dem Finger auf sie und sagt zu den Leuten: "Das sind Juden." Darum sagt Ilse Aichinger in einem Interview: "Ich selbst habe der Stadt Wien gegenüber wenig Toleranz, weil ich hier das Schlimmste gesehen habe."

In dieser Woche wurde Ilse Aichinger mit dem Ehrenpreis des Österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln ausgezeichnet. Warum das kein Widerspruch ist, hat sie in der Preisrede deutlich gemacht, wo sie von der Herrschaft der "harten Herzen und weichen Geister" sprach. Die Umkehrung dieser Formel - weiches Herz und harter Geist - charakterisiert sie selbst und ihre Auffassung von Toleranz, die nichts mit der systematischen Vernebelungsrhetorik der "weichen Geister" zu tun hat, aber sehr viel mit dem Blick auf den Rand der Gesellschaft: "Die Katastrophen spielen sich immer am Rand ab, mit dem niemand zu tun haben will", sagte sie bei der Preisverleihung mit Blick darauf, wie Ausländer unter uns leben müssen bzw. nicht mehr leben können.

"Ich wollte wirklich weniger die Literatur als einfach das Verhalten, und ich suchte immer nach denen, die leben können", antwortete mir Ilse Aichinger am Ende eines langen Gesprächs (abgedruckt im neuen Heft der Zeitschrift "Literatur und Kritik"). Ihr Blick auf das Leben war nie von jenen kompromisslerischen Toleranzfloskeln getrübt, die ein verkappter Ausdruck für Gleichgültigkeit sind, sondern von einer wütenden Genauigkeit, die in poetischer Prosa wie im Klartext öffentlicher Rede dafür eintritt, dass niemandem die Lebensmöglichkeiten genommen werden. "Genau hinsehen, was geschieht" - dieser Leitsatz der autobiographischen Aufzeichnungen Ilse Aichingers drückt am knappsten aus, wozu Literatur fähig ist und fähig macht.

cornelius.hell@furche.at

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