Totaler Einsatz für die Armen

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Aus der Biographie von Hildegard Burjan, Gründerin der "Caritas Socialis"

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Aus der Biographie von Hildegard Burjan, Gründerin der "Caritas Socialis"

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THEMA Wunderbar vom Tod errettet, verschreibt sich Hildegard Burjan dem Dienst an den Armen, wirkt in der Politik, gründet die Caritas Socialis, eine Schwesterngemeinschaft als "Hilfstrupp Gottes". Im folgenden Leseproben aus ihrer Biographie, die demnächst präsentiert wird und von der Vizepostulatorin des laufenden Seligsprechungsprozesses für Burjan verfasst ist.

Die junge Frau, die am 2. Oktober 1908 in das St. Hedwigs-Spital in Berlin eingeliefert wurde, war fast ohnmächtig vor Schmerzen. Trotzdem hatte sie noch darauf bestanden, in ein katholisches Krankenhaus gebracht zu werden. Hildegard Burjan litt schon seit Jahren an Schmerzen in der Blinddarmgegend. Sie hatte in den vergangenen drei Jahren mehrere Ärzte konsultiert, aber es gab keine exakte Diagnose. Die Schmerzen waren nicht einzuordnen, sie hatte kein Fieber und auch nicht sonstige gravierende Beschwerden.

An diesem Oktobermorgen erwachte sie durch wahnsinnige Schmerzen; sie hatte die erste Kolik. Der Hausarzt veranlasste die sofortige Einweisung in ein Krankenhaus, wo das Röntgenbild einen erbsengroßen Stein im Harnleiter, ungefähr fünf Zentimeter unter dem Nierenpol, zeigte. Am nächsten Tag erfolgte bereits die Operation, die erste Station eines siebenmonatigen Leidensweges.

Vier große und mehrere kleine Eingriffe musste Hildegard über sich ergehen lassen Die Wunde eiterte ständig, der Harnleiter hielt nicht dicht. Eine Fistel bildete sich zwischen Harnleiter und Darm. Die Temperatur stieg an, und Hildegard hatte ständig starke Schmerzen. Dreimal täglich erhielt sie Morphium gespritzt.

Nichts mehr erinnerte in diesen Tagen an die einst blühende junge Frau. Bis zum Skelett abgemagert lag sie im Bett. Den verzweifelten jungen Gatten bereiteten die Ärzte darauf vor, dass er mit dem Schlimmsten rechnen müsse. Am Karsamstag des Jahres 1909 schienen die Stunden der erst 25-Jährigen gezählt zu sein.

Doch es geschah das Unfassbare - am nächsten Tag, am Ostermorgen, war der seit Wochen offene Einschnitt im Harnleiter zugeheilt, das Fieber gesunken. Ein Wunder schien geschehen zu sein. Zugleich mit den sich nun wieder regenden Lebenskräften wurde Hildegard auch von einem unaussprechlichen Glücks- und Dankgefühl durchströmt - sie verspürte jetzt in sich die Kraft, glauben zu können. Nach einer langen Zeit des Suchens wurde ihr diese Gnade zuteil. (...)

Hildegard war zutiefst erschüttert und aufgewühlt, was an ihr geschehen war, wie Gott sie geführt hatte. Sie sprach später kaum darüber, nur aus einigen Bemerkungen konnten ihr Nahestehende die Intensität dieser Begegnung mit Gott ahnen. So sagte sie einmal zu einer engen Vertrauten: "Was mir die Leute doch alles über ihre Visionen erzählen, über so etwas spricht man doch nicht, wenn man es erlebt hat."

Nun, Hildegard schwieg zwar über das Erlebnis, aber es war für sie der Anlass, dass sie in diesen österlichen Tagen in Berlin den Entschluss fasste, dieses zweite, neu geschenkte Leben ganz Gott zu weihen. Über das Wie musste sie sich erst klar werden. Zwei Wochen später, am 26. April 1909, wird die Patientin Hildegard Burjan nach einem siebenmonatigen Krankenhausaufenthalt entlassen.

* Einige Monate später, Weihnachten 1909 - die Burjans sind inzwischen nach Wien übersiedelt -, weiß Hildegard, dass sie Mutter werden wird. Ein angesehener Gynäkologe rät zur Unterbrechung der Schwangerschaft. Die dringende ärztliche Indikation, Lebensgefahr für die Mutter, ist gegeben. Hildegard lehnt mit aller Entschiedenheit ab: "Das wäre ja Mord! Wenn ich zugrunde gehe, sterben muss, dann geschehe Gottes Wille, aber das Kind soll leben."

Als Politikerin wird sie später als vehementeste Kämpferin gegen eine von den Sozialdemokraten angestrebte Freigabe der Abtreibung auftreten.

Am 27. August 1910 schenkt sie im Wiener Sanatorium Löw einer Tochter das Leben. Die Geburt bringt sie tatsächlich in Lebensgefahr. Diesmal ist es eine Gehirnblutung. Sechs Wochen muss Hildegard wieder im Spital verbringen. Das kleine Mädchen wird auf den Namen Elisabeth, nach der großen Caritasheiligen, und auf den zweiten Namen Aloisia, nach der Generaloberin im Berliner St. Hedwigs-Krankenhaus, getauft.

* Als (Kardinal) Piffl im Frühjahr 1917 das Meidlinger Asylspital aufsuchte, um dort den von der Polizei aufgegriffenen, geschlechtskranken Mädchen das Sakrament der Firmung zu spenden, war er von deren seelischer Not zutiefst erschüttert. Gleich am nächsten Tag ließ er Hildegard Burjan zu sich rufen und schilderte ihr die Situation der jungen Frauen, die zwar medizinisch gut behandelt wurden, aber ansonsten gänzlich sich selbst überlassen waren.

Piffl wusste, dass diese Angelegenheit, die ihm wirklich zutiefst nahe ging, bei Hildegard in guten Händen wäre. "Ihnen wird sicher was einfallen", meinte er. Hildegard fiel tatsächlich etwas ein, sie war überzeugt davon, dass den Mädchen nur wirksam geholfen werden könne, wenn sie nach ihrer Entlassung aus dem Spital für eine künftige Arbeit praktisch geschult werden und zugleich als Stütze für ihr weiteres Leben auch eine seelische und religiöse Betreuung erfahren. Mit großem Einsatz und unter Einschaltung hoher Persönlichkeiten erhoffte sie, vom Ministerium für soziale Verwaltung eine Subvention für die Übernahme und Renovierung eines Hauses in der Hütteldorferstraße 289 im 14. Wiener Gemeindebezirk zu bekommen.

In einem Briefwechsel mit Laura Stephelbaur schildert Hildegard die sich auftürmenden Schwierigkeiten und das Unverständnis der zuständigen Referenten, die meinten, "es sei schade um das Geld, weil solche Mädchen sich nicht ändern würden".

Doch Hildegard war nicht so leicht zu entmutigen. "Ich habe sie schon alle halbtot geredet", lässt sie ihre Mitarbeiterin Stephelbaur wissen. Ein halbes Jahr später bat sie Kardinal Piffl, die Einweihung eines "Heimes für sittlich Entgleiste" vorzunehmen. (...)

Hildegard traf sich also mit dem Moraltheologen Seipel. Sie erzählte ihm von ihrem Plan, eine Gemeinschaft von Schwestern zu gründen, die jederzeit einsetzbar sei. Einen "Hilfstrupp Gottes" sozusagen. Es sollten Menschen sein, die sich in die Welt der Not begeben, wobei es nicht nur um die materielle, sondern auch um die geistige Not gehe. Hildegard schilderte in beredten Worten ihre Vorstellungen. Nach ihren Erfahrungen gebe es in dieser Richtung eine Lücke im kirchlichen Angebot, und die Kirche als "Mutter aller Gestrandeten hätte doch die Verpflichtung, auch Neuland im Bereich der sozialen Arbeit zu betreten". Seipel war von der Idee angetan. (...)

Es sollte aber keine neue Ordensgründung erfolgen, da ging sie mit Seipel konform. Aber sie wollte eine Schwesternschaft gründen, die "ähnlich wie Klosterfrauen, aber in der Welt draußen das tun können, was andere nicht, eingeengt durch die Klausur, tun können". (...)

Am 24. Oktober 1918, in einer Zeit, in der eine bestehende Gesellschaftsordnung aus den Fugen geriet, wurde der erste Schritt zur Gründung dieser neuen Vereinigung gesetzt. 50 Frauen und Mädchen, die bereits soziale Arbeit leisteten, hatten nach von Hildegard Burjan veranstalteten Exerzitien den Wunsch nach einer ständigen religiösen Betreuung geäußert. Sie fanden sich in der Kapelle des "Carolineums" in der Arbeitergasse 26 zusammen.

Prälat Seipel als geistlicher Leiter brachte ihnen die von Hildegard verfassten "Leitsätze der Vereinigung Caritas Socialis" zur Kenntnis. Fürs Erste wurde ein monatliches Treffen zur praktischen und religiösen Schulung beschlossen. Eine Konstituierung des Vereins sollte später, bei günstiger Entwicklung erfolgen.

Schließlich waren die Zeiten so turbulent, dass Pläne auf längere Sicht zunächst gar nicht gefasst werden konnten. Für Hildegard war das nur ein Anfang. Sie wusste, dass die Vereinigung von einer endgültigen Form noch weit entfernt war. Mit ihr nahe stehenden Menschen führte sie nun viele Gespräche, um sich Rat zu holen, aber auch, um sich selbst über ihre eigenen Vorstellungen klar zu werden. Viele Stunden verbrachte sie vor dem Allerheiligsten, um im Gebet Klarheit darüber zu gewinnen, was Gottes Wille sei.

* Für den Tätigkeitsbereich 1930 vermerkt Hildegard: "Derzeit werden 88 Mädchen im Rahmen der Nachfürsorge in Essling betreut. Sie erhalten dort nicht nur eine umfassende hauswirtschaftliche Ausbildung, sondern werden auch persönlich und religiös betreut, damit sie gut gerüstet wieder im Leben Fuß fassen können."

Die Not der Nachkriegszeit ließ auch die Zahl der ledigen Mütter ansteigen. Deren Schicksal und das ihrer Kinder griff Hildegard besonders ans Herz. Abtreibung, Kindesweglegung, Selbstmord oder gar Mord waren die Verzweiflungstaten mancher im Stich gelassenen jungen Frau. Durch die Übersiedlung nach Essling wurden die Räume in der Hütteldorferstraße frei.

Hildegard sah es als Christenpflicht an, jenen zu helfen, die den Mut hatten, trotz aller Widrigkeiten ihrem Kind das Leben zu schenken. Sie machte daher dem Vorstand den Vorschlag, in den frei gewordenen Räumen eine Bleibe für ledige Mütter einzurichten. Im Oktober 1924 fanden die ersten Frauen hier Unterkunft. Auf Grund der großen Nachfrage musste die Aufenthaltszeit auf zwei Monate vor der Geburt bis zu drei Monate nach dieser begrenzt werden.

In dieser Zeit halfen die CS-Schwestern den Müttern, auch ihre Verhältnisse wieder etwas zu ordnen. Oft konnte der Kontakt mit dem Elternhaus wiederhergestellt werden, oder es wurde eine Arbeit für die junge Frau gefunden. Im Laufe der Jahre fanden hier Hunderte von Frauen Unterkunft. (...)

Auch in der staatlichen Fürsorge begriff man endlich, dass mit der "Heimaufbewahrung" allein kaum ein junger Mensch wieder auf einen geordneten Weg zurückzuführen ist. Die erfolgreiche Arbeit der CS-Schwestern, die auf individuelle und persönliche Betreuung ausgerichtet war, schien neue Wege auf dem Gebiet der Resozialisierung zu eröffnen.

Auf Wunsch von Polizeipräsident Johannes Schober übernahmen CS-Schwestern die Leitung eines Polizei-Jugendheimes im 3. Wiener Gemeindebezirk. Eine schwierige Aufgabe - aufgegriffene, verwahrloste Kinder und Jugendliche beiderlei Geschlechts sollten wieder auf den rechten Weg gebracht werden.

Die Schwestern, denen es zwar gelang, das Heim von Grund auf neu zu organisieren, verzweifelten oft an der Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen bei den Zöglingen. Doch Hildegard tröstete sie immer wieder: "Und wenn wir auch nur einen Menschen retten können, zahlt sich dieser Einsatz aus."

Die "Seelenrettung" war für Hildegard das wichtigste Ziel bei der sozialen Arbeit: Alle Mühen und Opfer waren nicht umsonst, wenn auch nur ein Mensch wieder auf den Weg zu Gott geführt werden konnte. Vermutlich machte diese Einstellung das Geheimnis ihres Erfolges aus, sich nicht nur um die Verbesserung der Lebensumstände der Betroffenen zu kümmern, sondern vor allem um ihre seelische Gesundung.

* Wenn es um die Anschaffung neuer Kleider ging, spielte sich im Hause Burjan mit einer Regelmäßigkeit immer wieder dieselbe Szene ab. Alexander hatte sich daran schon gewöhnt und trug es mit Humor. "Hilderl, Deine Garderobe entspricht nicht mehr ganz der neuesten Mode. Du brauchst zumindest ein neues Kleid." "Brauch' ich das wirklich, die Kleider vom letzten Jahr sind doch noch ganz passabel?" Alexander blieb unerbittlich: "Ich hol' Dich morgen ab. Halte Dir einen Termin frei." Diese Gespräche endeten meist mit Hildegards Stoßseufzer: "Um wie viel einfacher wäre es, wenn ich Dominikanerin geworden wäre ..."

Dieser scherzhafte Dialog zwischen den Ehepartnern über eine nicht gerade welterschütternde Angelegenheit macht aber deutlich, auf welch verschiedenen Ebenen sich Hildegard Burjans Leben tagtäglich abspielte. Sie musste nicht nur das Kunststück vollbringen, zwei einander völlig konträr gegenüberstehende Lebenswelten im Alltag zu verbinden, sondern sie musste auch persönlich mit den sich daraus ergebenden Spannungen fertig werden.

Tagsüber war sie die Vorsteherin einer Schwesterngemeinschaft, die sich der Armut und Ehelosigkeit verschrieben hatte, und abends ging sie heim zu ihrer Familie in die Hietzinger Nobelvilla. In ihrem Büro in der Pramergasse gaben sich die Außenseiter der Gesellschaft die Türklinke in die Hand, und an der Seite ihres Gatten empfing sie oft nur wenige Stunden später die Spitzen aus Politik und Wirtschaft zu exklusiven gesellschaftlichen Veranstaltungen.

Zwischen Politik und Kirche - Hildegard Burjan. Von Inge Schödl. Verlag St. Gabriel, Mödling, 280 Seiten, brosch., öS 268,-/e 19,48

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