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Die Theaterausstellung in Reichenau am Semmering ist nur heuer zu sehen, dasTourismus-Theater läuft jeden Sommer: Szenen aus der Tourismusgeschichte.

Wir liegen - scheinbar dösend - im Liegestuhl und beobachten unbemerkt die Leute um uns herum; wir genießen die Dialoge und Minidramen, die da laufend entstehen, sehen zu, wie Neuankömmlinge ihre Rollen eins tudieren, wie Gäste mit dem Hotelpersonal umgehen, als ob sie täglich von Bediensteten umgeben wären oder amüsieren uns über die aufdringliche Fröhlichkeit von Berufsanimateuren, die ihr Fitness-Programm absolvieren. Wenn wir die Augen ein wenig zusammenkneifen, können wir sie erkennen, die unsichtbare Bühne des Tourismus, die all das zusammenfasst. Da zuschauende Schauspieler, dort schauspielernde Zuschauer, dazwischen improvisierende Regisseure und im Hintergrund sorgfältig eingerichtete Kulissen. Der Tourismus bezieht auch heute noch seine Grundlagen aus dem Fundus des Theaters.

Maskeraden und Kostüme

Denn im Urlaub sind wir Fremde, die laufend kulturelle Differenzen überbrücken müssen und wenig Zeit zur Anpassung haben. Schon um uns dabei zu schützen, greifen wir gerne auf Maskeraden und Tarnungen zurück, selbst wenn es nur ein Hut oder ein Regencape sind.

Auf der anderen Seite der Bühne agieren die Gastgeber als diskrete Regisseure. Sie entheben uns aller Mühen, bereiten unsere Auftritte vor und entscheiden, welche Handlungen auf der Bühne zu sehen sein dürfen, und welche hinter den Kulissen verborgen bleiben sollen. Oft ist es eine hauchdünne Membran, die etwa die vornehme Ruhe in einem Hotelspeisesaal von der Hektik dahinter trennt. Gastwirte und Hoteliers haben aber auch eine wichtige Aufgabe als Produzenten dieses Urlaubstheaters. Sie verwandeln die unveräußerliche Schönheit der Umgebung - wegen der wir ja eigentlich gekommen sind - wieder in verwertbare Erzeugnisse. Sie bestimmen Zimmerpreise nach der Qualität der Aussicht und tischen landwirtschaftliche Erzeugnisse der Umgebung als einheimische Spezialitäten auf. Selbst Wasser und Luft der Region werden unter ihrer Regie zu Heilmitteln und Kostbarkeiten. Elegant wechseln sie zwischen den Handlungsfeldern und passen jeweils ihre Haltungen an: Autoritär gegenüber dem Personal, servil gegenüber Gästen. Dabei ist der Einsatz schauspielerischer Techniken nicht nur hilfreich, sondern notwendig. "Schauspielern ist mir das liebste Vergnügen", bekannte die legendäre Thalhof-Wirtin Olga Waissnix aus der Paradesommerfrische Reichenau gegenüber ihrem Brief- und Herzensfreund Arthur Schnitzler. Waissnix hatte für ihre Gäste in Reichenau zahlreiche Amateuraufführungen organisiert und arrangiert. Auch wenn sie sich Schnitzler gegenüber über das hölzerne Spiel ihrer Bühnenkollegen lustig machte, empfand sie den "ganzen Unsinn" doch als "Riesenabwechslung". Das freiwillige Theaterspiel mit Einheimischen und Gästen wurde ihr zum Ventil für das beruflich erzwungene Rollenspiel. Auf ihrer Wohnungstüre im Thalhof soll geschrieben gewesen sein: "Olga Waißnix - Specialistin in Costümen u. aparten Ideen, ordinirt täglich von 11 bis 12 u. 5-7." Das kann auch als ironischer Hinweis auf einen Orientierungsverlust verstanden werden.

Das Schauspiel vor Gästen

Die früh verstorbene Olga Waissnix ist das tragische Beispiel einer modernen Tourismusregisseurin, die die dauernden Identitätsanpassungen seelisch und körperlich aufzehrten. In den Briefen an Schnitzler wechseln ihre Zustandsbeschreibungen zwischen Flucht in die Betriebsamkeit der Hochsaison und Depressionen in der Nachsaison. Immer wieder macht sie deutlich, wie anstrengend das Schauspiel vor, um und mit Gästen ist, zumal wenn man es selber durchschaut. In einem Brief vom Juli 1887 schreibt sie: "Übrigens finden viele, daß ich mich großartig amüsiere, c'est à mon insu! S'ist heuer eine ziemlich gemischte Gesellschaft. Ein paar Russen, drei portugiesische Grafen, drei norddeutsche Grafen, ein russischer Fürst, man spricht französisch und englisch, lacht, erhält Blumen und Bonbons, ärgert ein paar neidige Damen durch einen aparten Hut oder Kragen, ist arrogant, was weiß ich, und dabei überkommt einen eine unendliche Wehmut."

Identitätsspiel des Gastes

Dem Identitätsspiel des Gastgebers steht in der Sommerfrische ein Identitätsspiel des Gastes gegenüber. Schließlich stellt die Möglichkeit, aus gewohnten Lebenszusammenhängen herauszutreten, ein wesentliches Antriebsmotiv für den Urlaub dar. Peter Altenberg erinnert sich, dass sein Vater nach der Ankunft in eben jenem Thalhof, in dem Waissnix inszenierte und ordinierte, gerne einige Tage lang aus dem Dunstkreis der Familie verschwand und sich "als Holzknecht verkleidet" in eine nahe gelegene Jagdhütte zurückzog. "Er stand um 4 Uhr auf und kochte Sterz und ging den Birkhahn betrachten in seinen Liebestänzen [...] Einmal gab man ihm zwanzig Kronen, um Gepäck zum Baumgartnerhaus zu tragen. Man hielt ihn für einen "echten" Holzknecht, schönstes Geld seines ganzen Lebens!"

Angesichts der fremden Umgebung wird es für die Gäste notwendig, ihren Alltag neu zu organisieren. Das geht nicht ohne Pannen vor sich. Vor allem Kindern fällt das schnell auf. Bürgerliche Kindheitserinnerungen an Sommerurlaube sind daher voll von nervösen Dienstboten, von Gouvernanten und Erziehern, die zum Opfer von Streichen werden und von Eltern, die die Kontrolle über die Familie zu verlieren scheinen. Kinder aktivieren ihre größere soziale Mobilität, um sich mit Ortsansässigen zu verbünden und Machtverhältnisse umzukehren - und spielen ihrerseits Theater. Die Schriftstellerin Trude Marzik, die ihre Kindheitssommer im Kamptal verbrachte, liebte es, sich mit einheimischen Kindern gemeinsam zu verkleiden und ist überzeugt, dass "Theaterspielen zu den beliebtesten Freizeitvergnügen der Sommergäste gezählt" hätte. Selbst gestaltete Unterhaltungen dienten auch dazu, sich die langen Abende zu verkürzen. Öffentliche Theateraufführungen gab es bestenfalls in Kurorten und Brettspiele konnten mit der Zeit auch langweilig werden. Vor allem in größeren Häusern pflegte man so genannte Haustheater. Die Familie Heimito von Doderers, die den Rieglhof in Prein an der Rax bewohnte, veranstaltete noch in den 1930er Jahren gelegentlich private Theaterabende. Wolfgang Stummer, der Neffe des Schriftstellers, erinnert sich an eine Aufführung von "Judith und Holofernes". Als Kopf des Holofernes diente ein eigens präparierter Kürbis. Man saß um den Wohnzimmertisch, jeder hatte seine Passagen auswendig gelernt, und im entscheidenden Augenblick wurde das "Haupt" mit dem Offizierssäbel Doderers geteilt. Wahrscheinlich ließ sich die genussvoll zelebrierte Kürbisszene auch für andere Theaterstücke adaptieren.

Stammgast-Inszenierungen

Das Spiel mit Verkleidungen und Kostümierungen hatte jedoch nicht für alle Sommergäste jene unbekümmerte Note. Je mehr Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts in die klassischen Urlaubsregionen nachströmten, desto mehr wurden "Verkleidungen" für "alteingesessene" Gäste auch zu einer Verpflichtung. Gegenüber Neuankömmlingen wollten Stammgäste ihren Status als Früher-schon-da-Gewesene betonen. So lassen sich Sommerfrischler in dieser Zeit zunehmend in regionalen Trachten beobachten. Nur oberflächlich hatte diese Trachtenwelle mit einem Schulterschluss gegenüber den Einheimischen zu tun, die ja kaum im "Dirndl" zu sehen waren. Vielmehr wollte man sich damit gegenüber nachdrängenden Urlaubern unterscheiden und demonstrativ "heimisch" machen. Das Rollenspiel konnte also auch zum Bekenntniszwang werden. Aber auch dieser gehört zu jenen zahlreichen szenischen Anweisungen, die es erlauben, von einem Theater, auf alle Fälle von einem Schauspiel des Tourismus zu sprechen.

Lehnen wir uns also wieder zurück in unseren Liegestuhl, lassen wir die Sonnenbrille auf die Nase gleiten, und nehmen wir unsere kleinen Studien wieder auf. Da drüben auf einem Terrassentisch hat nämlich gerade eine Familie zum Mittagessen Platz genommen. Die Eltern erinnern heftig gestikulierend, aber flüsternd, ihre ungeduldigen Kinder an die grundlegenden Tischsitten. Schließlich sei man hier nicht zuhause, heißt es. Und schließlich könnte ja immer jemand zuschauen.

Der Autor ist Ausstellungsmacher und Museumsplaner.

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