Nelson Mandela: Träume von der kollektiven Weisheit

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Nelson Mandela wäre am 18. Juli 100 Jahre alt geworden. Er war sechs Jahre jünger als der African National Congress. 27 Jahre hat er in Gefängnissen verbracht, fünf Jahre war er Präsident Südafrikas. Er war 95, als er am 5. Dezember 2013 in Johannesburg verstarb.

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Nelson Mandela wäre am 18. Juli 100 Jahre alt geworden. Er war sechs Jahre jünger als der African National Congress. 27 Jahre hat er in Gefängnissen verbracht, fünf Jahre war er Präsident Südafrikas. Er war 95, als er am 5. Dezember 2013 in Johannesburg verstarb.

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Weltberühmt machten Nelson Mandela die fünf Jahre von 1994 bis 1999 als erster Präsident Südafrikas nach dem Ende des rassistischen Apartheid-Systems. Aber der Mythos Mandela beruht wohl auf jenen 27 Jahren im Gefängnis - verurteilt zu lebenslänglich, blieb er ungebrochen aktiv und war von Anfang an davon überzeugt, dass die Apartheid in Südafrika verschwinden und seine Sache siegen wird.

Pünktlich zum 100. Geburtstag erscheinen Nelson Mandelas "Briefe aus dem Gefängnis", in denen dieser unerschütterliche persönliche Glaube klar zum Ausdruck kommt. Tatsächlich sind es Briefe aus vier Gefängnissen -zunächst an die engsten Familienangehörigen, später an Verwandte im ganzen Land, an Anwälte und an Behördenvertreter quer durch die Hierarchie. Mandela schreibt über seine Kindheit und Jugend auf dem Land, über seine Arbeit als einer der ersten schwarzen Rechtsanwälte, bevor 1948 die Apartheid eingeführt wurde, er schreibt an seine Kinder und übt derart über Jahrzehnte eine Art Fernvaterschaft aus.

Briefe aus vier Gefängnissen

Unermüdlich schreibt er an Beamte und Bürokraten, etwa an den neuen Gefängnisdirektor, der ihm die für sein Jurastudium notwendige "empfohlene Lektüre" nicht genehmigen will. Jetzt muss Mandela in detailliertester Argumentation belegen, warum er die empfohlene Lektüre braucht.

Natürlich wird alles zensiert, Briefe werden zurückgehalten oder gar nie abgeschickt, so kommt nach Mandelas Freilassung ein Geburtstagsbrief an seine Tochter zu Tage, Vermerk: "N.M. darf keinen Brief zusammen mit einer Weihnachtskarte abschicken". Es ist haarsträubend, mit welcher Perfidie die Beamten den Kontakt zur Außenwelt sabotieren. Da Mandelas sorgsam entworfene Briefe oft literarisch anmuten, sei ein literarischer Vergleich erlaubt: Franz Kafka hat den "Prozess" geschrieben, Nelson Mandela hat Kafka gelebt.

Erhellend auf ihre Art sind die Briefe an Winnie Mandela. Wenn man sich fragt, warum Nelson Mandela, das Vorbild moralischer und politischer Integrität, so lange an seiner Frau Winnie Mandela festgehalten hat, die sich nach dem Machtantritt des ANC eher zur Anti-Ikone, nämlich von Korruption und Machtmissbrauch entwickelt hat und zweimal rechtskräftig verurteilt wurde, dann versteht man dies nach der Lektüre der Briefe etwas besser: Er sitzt im Gefängnis, sie sitzt im Gefängnis (13 Monate), die kleinen Kinder sind an unbekannten Orten, er schreibt Briefe, in denen er ihr juristische Hinweise und moralische Unterstützung gibt, von denen er nie weiß, ob sie ankommen oder nicht. Oder: Sie wird wiederholt in ihrem Haus überfallen und mit dem Tod bedroht und Mandela versucht nun, mit Briefen an den Polizeichef eine Waffenerlaubnis für seine Frau zu erwirken. Später erfährt der Gefangene, dass von 14 Briefen in einem bestimmten Zeitraum alleine zwölf nicht angekommen sind. Solche Erfahrungen im gemeinsamen Kampf - Winnie war aktiv im ANC - schweißen zusammen, auch wenn er drinnen weiß, dass sie draußen andere Beziehungen hat.

1970 erreicht den Genossen Douglas Lukhele, der Senator in Swasiland (Unabhängigkeit 1968) geworden ist, ein Brief: "Um es ganz klar zu sagen, Duggie: Nur mein Fleisch &meine Knochen sind hinter diesen undurchdringlichen Mauern eingesperrt. Ansonsten bleibt meine Haltung kosmopolitisch, und in meinen Gedanken bin ich frei wie ein Falke. Der Fixpunkt all meiner Träume ist die kollektive Weisheit der Menschheit als Ganzes." Anschließend erklärt Mandela sich davon überzeugt, dass die soziale Gleichheit die Basis des menschlichen Glückes sei, und das gehört nun zu einer Geschichte, die in diesen Gefängnisbriefen unterbelichtet bleibt, Politik ist Tabu. Auch über seine Genossen und Mitgefangenen darf er nicht schreiben, obwohl sie eine wesentliche Rolle für das Überleben im Gefängnis und die ideologische Entwicklung einer zukünftigen Politik spielen.

Ein Kind des ANC

Später schreibt Nelson Mandela an einer (unvollendeten) politischen Autobiografie über seine Jahre als Präsident von Südafrika. Diese hat der Schriftsteller und ehemalige ANC-Kulturvertreter Mandla Langa in einer Art Text-Feature um eigene Texte erweitert und zu einer profunden Darstellung gebracht: "Dare Not Linger. Wage nicht zu zögern. Die Präsidentenjahre". Das nennt sich "Autorisierte Biografie" und bringt vor allem eines in den Vordergrund: Nelson Mandela bewahrte das Land mit seinem integrativen Politikansatz der Versöhnung ("Reconciliation") vor einem Absturz in den großen Bürgerkrieg, verband es zugleich mit der internationalen Völkergemeinschaft und betrieb eine pragmatische innere und äußere Diplomatie.

Aber das Ende der Apartheid war nicht das Geschenk eines übermenschlichen politischen Führers, sondern die Etappe eines historischen Konfliktes mit vielen Akteuren. Nelson Mandela selbst war, auch im eigenen Verständnis, ein Kind des African National Congress (ANC), der sechs Jahre vor seiner Geburt gegründet wurde. Mehr eine Volksbewegung als eine Partei, für Millionen die politische Heimat im Widerstand gegen das Rassistenregime. Mandela war in den 1940er-Jahren einer der Gründer ihrer radikalen Jugendliga und später der Führer ihres bewaffneten Arms MK, dessen Aufstand scheiterte, noch bevor Mandela inhaftiert wurde. 1991 wurde er Präsident des ANC.

Der deutsche Politikwissenschaftler Stephan Bierling erinnert in seinem Buch "Nelson Mandela, Rebell. Häftling. Präsident" wiederum daran, dass der ANC nicht allein im Kampf gegen die Apartheid war. Das sei ein Wunschbild der heutigen ANC-Propaganda, die ihre Bewegung als Hintergrund für die Ikone Nelson Mandela darstellt, eine alles (hier: die Schatten der Korruption) überstrahlende Figur. Dieses Buch übt bei allem Respekt vor Mandelas Ruhm eine vorsichtige Kritik und wird damit einer guten Tradition wissenschaftlicher Neutralität gerecht. Das ist immer hilfreich, wenn es um Politiker-Biografien geht, die Herausforderung gerade für einen Mandela-Biografen besteht in einer glaubwürdigen Balance.

Gerechter Kampf gegen Apartheid

Kaum problematisch erzählt sich dabei Mandelas gerechter Kampf gegen die Apartheid, in der Gefangenschaft und im Kontext des ANC als Volksbewegung. Auch der Weg ins Präsidentenamt des ANC (1991-1997) und dann zum ersten Präsidenten Südafrikas (1994-1999) nach der Apartheid bezeugt Mandelas politische Integrität. Aber nach dem Machtantritt bis heute ist von Mandelas frühen Idealen der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit nicht viel zu sehen. Bei den Weißen, die ihre aus der Apartheid resultierende Wirtschaftsmacht behielten, hat sich erst sein Nachfolger Thabo Mbeki unbeliebt gemacht, als er Staatsjobs nur noch an Schwarze vergab. Während viele ANC-Kader durch Korruption reich wurden, bewies Nelson Mandela Loyalität und -das verschweigt Bierling nicht -ließ sich gerne von der weißen Upperclass verwöhnen. "Rebell. Häftling. Präsident", in diesem Titel liegt ein mahnender Unterton: Nelson Mandela bleibt ein Leuchtturm des Antirassismus und eine Ikone des afrikanischen Befreiungskampfes, aber Macht und Reichtum haben ihre eigene Gravitation.

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