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Für die einen ist es das Wunder von Bern. Für die anderen ist es eine fatale Niederlage - und das nicht nur auf dem Fußballfeld: der unerwartete Sieg Deutschlands über Ungarn bei der Fußball-WM 1954.

Es war, als wäre Großdeutschland wiederauferstanden, als die berüchtigten Zeilen von tausenden Kehlen gesungen das Berner Wankstadion und für eine Schrecksekunde die ganze Welt erbeben ließen: "... Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt. Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt." Während die Bild-Zeitung unsensibel mit "Endsieg!" schlagzeilt, empfindet der Korrespondent von Le Monde unter der Überschrift: "Achtung!" ganz anders: "Zehntausende von Deutschen stehen still. Die Aufschreie enden. [...] Die Menge singt mit. Die Erde zittert. Es regnet. Es regnet, und mir ist kalt. [...] Freudestrahlend, jung, begeistert singen sie mit fester Stimme, auf dass es die ganze Welt hört und weiß, dass Deutschland wieder einmal über alles' gilt. Nun fröstelt mich noch mehr, und ich sage mir: Achtung! Achtung!"

Ob des "Wunders von Bern", wie die Erlangung des Fußball-Weltmeistertitels am 4. Juli 1954 durch das als Außenseiter gehandelte Deutschland alsbald bezeichnet wurde, schienen Konrad Adenauers Befürchtungen wahr zu werden. Der "Wundergreis" zog privat das harmlose Boccia-Spiel vor, erfahren wir in Peter Kaszas "Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte", das heuer im be.bra Verlag erschienen ist. Der Bundeskanzler sah es lieber, wenn die deutsche Mannschaft verlor, denn: "Ein Sieg kann einem Land so viele Feinde bringen, dass die Diplomaten Monate brauchen, dat wieder auszubügeln."

Ablehnung gegen Deutsche

Und auszubügeln hatte Deutschland damals genug. Keine zehn Jahre nachdem der von ihm entfesselte Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen war, begegnete man der besiegten Nation vielerorten mit Misstrauen und Ablehnung. Zwar war die Bundesrepublik in der 1951 gegründeten Montanunion mit von der Partie und damit von Anfang an in den europäischen Einigungsprozess integriert. Aber 1954 waren die Verhandlungen zum heiklen Thema Wiederbewaffnung noch nicht abgeschlossen.

Als dann Peco Bauwens, der Präsident des deutschen Fußballbundes, beim Empfang der Siegermannschaft im Münchner Löwenbräukeller für die deutschen Schlachtenbummler forderte: "Wenn aber andere auf dem Spielfeld herumturnen mit ihren Fahnen vor dem Spiel, dann geht es nicht an, dass unseren Leuten verboten wird, unsere stolze deutsche Fahne zu führen." Als er sich dann noch zum Führerprinzip und Wotans Unterstützung für das Spiel ausließ, blendete sich der Bayerische Rundfunk aus.

Der deutsche Innenminister reagierte denn auch entsprechend mit der Bemerkung, dass man "die politischen Äußerungen des Herrn Bauwens nicht ernster nehmen [darf] als Äußerungen des Bundeskanzlers über die Technik des Fußballspiels."

Ein paar Tage vorher, als die Spieler vor 80.000 Zuschauern im Berliner Olympiastadion das silberne Lorbeerblatt von Bundespräsident Theodor Heuss verliehen bekamen, beschwichtigte der: "Meine lieben Weltmeister, Sie erwarten und Sie kriegen von mir heute keine politische Versammlung. Wir sind wegen des Sportes da."

Bei Kasza erfährt man aber auch noch von anderen Befindlichkeiten. In der DDR etwa, dem Land des real existierenden Sozialismus, saß man nämlich zwischen den Stühlen. Man war den Westdeutschen emotional verbunden, die Staatsräson erforderte jedoch die Solidarität mit dem magyarischen Brudervolk.

Anders als im Westen, wo sich die Politik aufgrund der schlechten Erfahrungen im Nationalsozialismus vom Sport fernhielt, galt im Osten: "Alle Sporttreibenden sind in den nationalen Volkskampf für die demokratische Einheit Deutschlands und den Frieden einzubeziehen."

Den Spagat schaffte Wolfgang Hempel vom DDR-Rundfunk, der nach Anweisung von oben nur von der westdeutschen, keinesfalls aber von der deutschen Mannschaft sprechen durfte, mit einer emotionslos vorgetragenen Reportage, die ihn daheim aber viel Sympathie kostete. Leichter hatten es diesbezüglich sein westdeutscher Kollege Herbert Zimmermann und sogar - wenn auch auf der Verliererseite - György Szepesi, "die Stimme Ungarns".

Die "Arany Csapat" (Goldene Mannschaft) um Kapitän Ferenc Puskás war als absolute Favoritin in die WM gegangen. Unbesiegt in 32 Spielen seit vier Jahren, Olympiasieger 1952 in Helsinki und 6:3-Bezwingerin Englands, das 1953 in Wembley zum ersten Mal seit 90 Jahren in der Heimat geschlagen wurde. Die Polen, der einzige Gegner in der Qualifikationsgruppe 7, waren "wegen Aussichtslosigkeit" gar nicht erst angetreten.

Abseits des Fußballfeldes war der starke Mann Ungarns damals Mátyás Rákosi, der "beste Schüler Stalins" und seit dessen Tod, 1953, nur mehr Erster Sekretär der Kommunistischen Partei. Davor führte er als Ministerpräsident den Staat wie ein Straflager. Er setzte ein unerreichbares Plansoll fest, ließ infame Schauprozesse veranstalten, und fast jeder zehnte Ungar saß zumindest vorübergehend im Gefängnis. Der damit verbundene wirtschaftliche Niedergang alarmierte den "großen Bruder" in Moskau, der schließlich Imre Nagy, den späteren Hoffnungsträger des ungarischen Aufstands von 1956, als Staatschef installierte. Die Staatsfußballer und ihre Siegesserie waren laut Peter Kasza der letzte Kitt zwischen Volk und Regime, und selbst der war jetzt brüchig geworden.

Die einsame Mannschaft

Die Puskás-Elf war eine einsame Mannschaft, die im Ausland immer ohne Unterstützung des Publikums auskommen musste. Da die ungarischen Fans nicht verreisen durften, gab es im Budapester Népstadion (Volksstadion) Live-Übertragungen aus dem Rundfunk. So auch am 4. Juli 1954, wo sich Zehntausende Magyaren vor den Lautsprechern versammelt hatten. Diese Masse ergoss sich nach der Niederlage in die Straßen Budapests, überrascht, enttäuscht und in Weltuntergangsstimmung, die man in den Reihen der Politiker gern auf das Sportereignis reduziert gesehen hätte. Allerdings begann sich bereits an diesem Tag die lang aufgestaute Unzufriedenheit mit dem System an Straßenbahnwaggons und Schaufensterscheiben zu entladen, in einer Aufstandsstimmung, die zwei Jahre später in den Ereignissen von 1956 gipfeln sollte.

Für die Ungarn war 1954 anfangs ein rauschhafter Traum gewesen, in dem eine Niederlage auf dem Fußballplatz undenkbar war und der mancherorts gar ein Großungarn in greifbare Nähe zu rücken schien, jäh zu Ende gegangen:

Als am Tag nach dem Endspiel eine ungarische Theatergruppe zu einem Gastspiel in die siebenbürgische Kleinstadt Székelyudvárhely kam, waren alle Einwohner schwarz gekleidet. Ein Journalist, der die Gruppe begleitete, fragte eine alte Frau, wer denn gestorben sei. Niemand, nein, es sei noch viel, viel schlimmer, Ungarn habe im Fußball verloren. Auf die verwunderte Frage, ob sie sich denn für Fußball interessiere, antwortete sie: "Aber nein! In meinem Leben habe ich noch kein Fußballspiel gesehen. Aber wenn wir nur noch dieses eine Spiel gewonnen hätten ... Ganz Siebenbürgen wäre wieder ungarisch geworden."

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