Turbo-Urbanismus am Balkan

Werbung
Werbung
Werbung

„Balkanology“ im Wiener Architekturzentrum zeigt die moderne und reiche Architekturtradition am Balkan und die Umbrüche der jüngeren Vergangenheit, die zu einem unkontrollierten und rasanten Wachstum der Städte führten.

Jahrelang reiste Kai Vöckler kreuz und quer durch Südosteuropa, um die Auswirkungen von gesellschaftspolitischen Umbrüchen, Kriegsereignissen, Migrantenströmen, deren Geldtransfers in die Heimat und weiteren Symptomen auf die örtliche Baukultur zu erforschen. Dann kuratierte er mit Vladimir Kuli´c und Maroje Mrduljas die Schau „Balkanology. Neue Architektur und urbane Phänomene in Südosteuropa“, die im Architekturzentrum Wien zu sehen ist.

Die Region hat eine große moderne Architekturtradition, die vom sozialistischen System aufgenommen und radikal fortgesetzt wurde. Ein funktionalistischer, von Plattenbausiedlungen und herausragenden Prestigeprojekten geprägter Städtebau beherrschte die Metropolen Südosteuropas. Das Ende des Sozialismus aber führte zu einer starken Deregulierung des Bauwesens und ungesteuerter urbaner Dynamik. Seit jeher ist der Balkan ein Ort der Transformation, an dem Orient und Okzident aufeinandertreffen.

Prishtina: Eine Stadt vor dem Kollaps

Die Einwohnerzahl von Prishtina ist durch den Zuzug von Landmigranten, Flüchtlingen, Heimkehrern und Mitarbeitern internationaler Organisationen seit 1999 von damals 150.000 auf mehr als das Doppelte angestiegen. Der große Wohnbedarf löste einen illegalen Bauboom aus, der raschen Profit, hohe Dichte und viele Probleme mit sich brachte. „Die Stadt steht vor dem Kollaps“, sagt Visar Geci in einem Videointerview. Der kosovarische Architekt kommt dem Klischee eines Selfmade-Man vom Balkan recht nahe: Er lebte eine Zeit lang in Graz, lernte Deutsch und finanzierte sich sein Studium mit der Arbeit in einer Bar. Zurück in Prishtina, eröffnete er ein Fitness-Center und eine Cocktail-Bar außerhalb der Stadt. Geci wurde vom Fernsehen entdeckt und bekam eine Show, in der er Drinks mixte und dabei satirisch städtebauliche Themen ansprach. Er ist Mitbegründer von Archis Interventions, die Strategien zu deren Bewältigung entwickeln. Auch die Dächer einiger zentraler Viertel Belgrads sind von informellen Zu- und Aufbauten überwuchert, die von Dubravka Sekuli´c und Ivan Kucina dokumentiert und kategorisiert wurden. Viele weitere Teams begannen, sich zu vernetzen und in den Städten zu intervenieren.

Der ephemere Charakter der Region klingt auch in der Gestaltung von Thilo Fuchs und Oliver Mayer an: Kunststoff-Stegplatten fungieren als freigeformte, schwebende Bildträger der 43 exemplarischen Bauten, die im Schnelldurchlauf die jüngere Architekturgeschichte durchmessen. Jose Plecnik ist vertreten, auch der jugoslawische Pavillon, den Vjenceslaw Richter 1958 für die Weltausstellung in Brüssel plante, war eine Ikone. Das Verteidigungsministerium und Hauptquartier der jugoslawischen Volksarmee (1963) in Belgrad gilt als Hauptwerk des charismatischen Nikola Dobrovic. Während des Nato-Bombardements 1999 wurde es schwer beschädigt, seine Zukunft ist ungewiss.

Architektur-Panorama

Mit einer überdimensionalen, himmelwärts strebenden Blüte gestaltete Bogdan Bogdanovic 1966 die Gedenkstätte in Jasenovac, wo im Zweiten Weltkrieg das größte Konzentrationslager des Balkans gestanden ist, zum Symbol des Friedens. In den 1990er Jahren wurde das Gelände stark zerstört, Helena Paver Njiric entwarf das feine, ständige Museum (2007), das einer reflektierten, individualisierten Gedenkkultur huldigt. In der National- und Universitätsbibliothek von Andrija Mutnjakovic (1983) kreuzt sich der orientalische Hang zum Ornament mit der Systembauweise. Das Gebäude ist aus vielen Kuben mit weißen Kuppeln aus Polycarbonat, sein Fassadengewebe aus 17.000 Aluminiumelementen zusammengesetzt. Zlatko Ugljen entwarf die scheinbar schlichte, weiße Moschee von Sherefudin (1980) in Bosnien-Herzegowina. Der schöne Sakralbau mit dem mystischen Lichteinfall wurde mit Le Corbusiers Kapelle in Ronchamp verglichen und dem Aga-Khan-Preis für islamische Architektur ausgezeichnet. In Neu-Zagreb, der nach CIAM-Prinzipien geplanten „Zwillingsstadt“, steht der nagelneue Museumsmäander für zeitgenössische Kunst vom Studio za Arhitekturu – Igor Franic, der im Dezember endlich eröffnet wird. Die Baukultur am Balkan ist sehr vital.

Balkanology. Neue Architektur und urbane Phänomene in Südosteuropa Architekturzentrum Wien

Museumsplatz 1, 1070 Wien, www.azw.at

bis 18. 1. 2010, täglich 10–19 Uhr

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung