Über Gott und die Welt Titel

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Im neuen Prosawerk von Claudio Magris werden die Schauplätze zu Protagonisten.

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Im neuen Prosawerk von Claudio Magris werden die Schauplätze zu Protagonisten.

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Vor der schlichten Realität des Lebens ist die herausragende Leistung eines Genies wie der höchst beachtliche Sprung des Flohs, gemessen am Himalaja. Mit dieser Philosophie wird es weniger schwer, dem Tod ins Angesicht zu schauen."

Und diese schlichte Realität des Lebens, die zufällige Positionierung des Individuums im Netzwerk von Geographie und Geschichte, versucht der italienische Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Claudio Magris in seinem neuesten, gelungenen Prosawerk "Die Welt - en gros und en detail" nachzuzeichnen. Es wurde für dieses Buch bereits mit dem Premio Strega, der größten Literaturauszeichnung Italiens, geehrt. Es enthält die Betrachtungen eines imaginären Reisenden, ausgehend vom Cafe San Marco in Triest, dessen Genius loci durchtränkt ist von der Erinnerung an die untergegangene Monarchie und ihre Kaffeehauskultur - sehr passend für einen Autor, der durch die Veröffentlichung seiner Dissertation über den Habsburgischen Mythos in der österreichischen Literatur bekannt wurde. Die Reise endet nicht weit von San Marco, im Stadtpark, in der Kirche, im Tod. Eine Reise, ein Leben, und Triest ist Ausgangspunkt wie Ziel, doch dazwischen liegen Welten: Microcosmi der sprechende Originaltitel von Magris' Betrachtungen.

Der Leser wird mitgenommen auf Abstecher in alle Himmelsrichtungen, in slowenische Wälder, auf die Inseln des Kvarner, zu den Lagunen von Grado oder auf die Hügel um Turin, in verschiedene historische Epochen und philosophische Überlegungen. Raum und Zeit scheinen manchmal miteinander zu verschwimmen, denn "die Geschichte mündet allmählich wieder in die Geographie, in die Entschlüsselung von Zeichen und Furchen der Erde ... die Orte sind Knäuel der Zeit, die sich um sich selbst gewickelt hat. Schreiben heißt, diese Fäden abzuwickeln, wie Penelope das Gewebe der Geschichte aufzutrennen."

Und eben dies beginnt der Autor nun ganz langsam und behutsam. Jedes Dorf hat seine eigene Geschichte, mancher Hof, manches Wirtshaus ebenso. Wir begegnen vielen fremden Schicksalen auf unserer Wanderung, unsere Pfade kreuzen sich, wir erfahren von ihnen meist wenig, manchmal mehr, selten viel. Unsere Geschicke waren für einen Moment miteinander verknüpft, und dann geht jeder seiner Wege. Wie das Leben eben so spielt. Die Welt ist ein Buch, das sich dem Tempo der Zeit verweigert, es ist der gemächliche Schritt eines Wanderers, den Magris einschlägt, wenn er uns zu den realen und symbolischen Orten eines Lebens begleitet, ein beschauliches Flanieren, das sich auch einmal Zeit läßt, um stehenzubleiben, Atem zu holen und nachzudenken.

Es gibt keine Handlung, die sich chronologisch abwickeln, beschleunigen, erzählen ließe, statt dessen knüpft der Autor ein Netz von Mikrohandlungen, Aphorismen, poetischen Beschreibungen und Fakten aus Geschichte und Literatur, dies alles verbunden zu einer "ganz eigenartigen Mischung zwischen Erzählung und Essay, in der Magris absoluter Meister ist", so einer seiner Interpreten. Dabei kommt Magris' umfassende Bildung ebenso zum Tragen wie seine Beobachtungsgabe. Manches Detail erinnert an Doderer, der Erzähler teilt dessen Sinn für Skurriles, für die manchmal lächerliche Kleinheit des Menschen im Universum, aber er wird nie boshaft, im Gegenteil, er schildert die teils tragischen Schicksale einfacher Leute mit Wärme und Sympathie, ohne jedoch den Leser darüber im unklaren zu lassen, daß für ihn das Allgemeine zählt, "die Majestät und die Nacktheit der Kreatur, jene Universalität", die er im Barock zu finden glaubt. Und "die die europäische Kultur später mit den psychologisch-sentimentalen Miseren des kleinen, eitlen Ichs beschmutzt hat".

Ähnlich wie bei Ivo Andric' "Brücke über die Drina" sind die Schauplätze eigentlich die Protagonisten, es ist, als würde die Landschaft beginnen zu erzählen, ihre Bewohner fungieren als Statisten im Hintergrund, Opfer des Zufalls und der Wiederholungen der Geschichte. Dabei aber so klein und wehrlos, daß man sie einfach liebgewinnen muß. Eine sehr abgeklärte Sichtweise, die einerseits traurig macht und andererseits die Augen öffnet für das Schöne jenseits aller Kriege und Grausamkeit. Ein Buch über Gott und die Welt.

DIE WELT en gros und en detail Von Claudio Magris Übersetzung: Ragni Maria Gschwend Carl Hanser Verlag, München 1999 339 Seiten, geb., öS 291.-/e 21,14

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