Geschichten, die wir erzählen, machen das Leben aus. Aber wie steht es um diese, wenn man nach der Wahrheit fragt und sucht? Die kanadische Filmemacherin Sarah Polley, die 2007 mit dem Alzheimer-Film "An ihrer Seite“ mit Julie Christie in der Hauptrolle international bekannt wurde, ist in "Stories We Tell“ ein grandioser Essay über das Wissen gelungen, dass Dichtung und Wahrheit näher beinander liegen, als einem oft lieb ist. Polley arbeitet in dem formal wie inhaltlich exzeptionellen Streifen ihre Familiengeschichte auf - und landet bei der Erkenntnis, dass praktisch jedes Familienmitglied, das sie da vor die Kamera bittet, eine eigene Version dieser Geschichte von sich gibt. Aber was davon stimmt und ist authentisch? Man geht nicht fehl in der Annahme, dass die Antwort auf diese Frage weniger eindeutig ausfällt, als sich Unbedarfte vorstellen.
Eine heile Familienwelt bekommt Risse
Es geht um Sarahs Mutter Diane Polley, die mit 54 Jahren an Krebs verstorben ist. Das scheinbar klar dokumentierte Leben der Schauspielerin, die mit dem Schauspieler und Autor Michael Polley verheiratet war, bekommt Risse, wenn die oft schnell gegeneinander geschnittenen Erzählungen der Polleys Revue passieren. Die Ehe mit Michael ist weniger harmonisch verlaufen, als es die Nachrede glauben macht, eine erste Heirat wirft ebenso Schatten auf die Frau wie eine mehrmonatige Abwesenheit von Toronto, wo die Familie lebte; das Schauspielengagement von Diane in Montreal hat auch eine Affäre zur Folge und stößt Sarah Polley auf die Frage, ob denn ihr Vater auch ihr Erzeuger ist. Eine im Handumdrehen beileibe nicht mehr harmlose Geschichte, die mit viel (Super 8-)Filmmaterial aus dem Familienarchiv ergänzt wird.
Keine private Aufarbeitung familiärer Unbill, sondern ein allgemein gültiges Zeugnis über die Nuancen und Überraschungen der Wahrheit ist daraus geworden.
Stories We Tell
CDN 2012. Regie: Sarah Polley. Polyfilm. 108 Min.
