Umgehen des Vergangenen als STILPRINZIP

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Der Roman "Die Strudlhofstiege" entwarf 1951 ein intaktes Bild von Wien vor der "Katastrophe". Er brachte Heimito von Doderer den Durchbruch.

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Der Roman "Die Strudlhofstiege" entwarf 1951 ein intaktes Bild von Wien vor der "Katastrophe". Er brachte Heimito von Doderer den Durchbruch.

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"Ceci n'est pas une Strudlhofstiege". So nennt Klaus Nüchtern in seinem Buch "Kontinent Doderer. Eine Durchquerung" die zugehörige Station. Der Roman und die touristische Vermarktung haben sich so radikal über das topografische Vorbild gelagert, dass dessen Existenz ungesichert scheint.

Tatsächlich wurde die Strudlhofstiege bereits zu einem Fixpunkt bei Stadtrundgängen, als der Geschäftszweig "Spaziergang auf den Spuren von" noch in den Kinderschuhen steckte. Dass die reale Treppenanlage, errichtet 1910 von Theodor Johann Jaeger , sieben Kandelaber aufweist, während jene im Roman mit sechs Beleuchtungskörpern auskommt, hat Friedrich Achleitner als bewussten Akt interpretiert, mit dem der Autor die Stiegenanlage "auch realiter als sein Produkt urgieren" wollte. Eine Folge dieser effektiven Literarisierung ist die Enttäuschung bei kulturtouristischen Inspektionen vor Ort. Wie Nüchtern berichtet, fanden bundesdeutsche Doderer-Fans die reale Stiege durch die Bank "unvergleichlich viel kleiner" als das literarische ,Original'.

Das Gefühl, Wien wieder "im Griff" zu haben

Einen interessanten Hinweis gibt Franz Hubmann im Nachwort zu seinem 1996 erschienenen Doderer-Bildband über seine eigene Lektüre der Strudlhofstiege: "Ich persönlich hatte beim Lesen das Gefühl, ganz Wien im Griff zu haben." Genau das war einer der Gründe für die große Popularität des Romans. Erschienen Mitte März 1951 entwirft er ein intaktes Bild der Stadt vor der "Katastrophe", das den Bewohnern der Vier-Zonen-Stadt das Gefühl gab, Wien wieder "ganz im Griff" zu haben.

Wie sich hier schon in der Eröffnungsszene vor Mary K.s Fenster der Verkehr ordentlich abfädelt, war ein entlastender Gegenentwurf zum zerbombten Stadtbild. Freilich hätte man von diesen Fenstern aus eigentlich bis zum Donaukanal gesehen, ein bei den Kämpfen im April 1945 besonders radikal zerstörter Sektor Wiens. Die abgedeckten Schutthalden bleiben im Roman unsichtbar, der (Ruinen-)Staub aber wird doch eingespielt, denn seinetwegen hält das Dienstmädchen die Fenster meist geschlossen. Das ist eine der Volten, die direkt oder chiffriert Konkretes ansprechen, um es im Aussprechen umzudrehen oder zu umhüllen. Der Bezug lässt sich ebenso gut entschlüsseln wie überlesen.

Diese Doppeldeutigkeiten, das Ausblenden und zugleich Antippen von Realien der Kriegs-und Nachkriegsjahre, bilden im Roman eine durchlaufende Linie. Sie bot den Zeitgenossen entlastende Optionen für den Umgang mit dem gerade Erlebten an, obwohl und gerade weil das zentrale Thema die Notwendigkeit aktiver Erinnerungsarbeit ist. Ein Hinweis darauf verbirgt sich schon im Untertitel: "Melzer oder Die Tiefe der Jahre". Dem "Überschreiben" der Nachkriegsrealität samt Ausblenden der NS-Vergangenheit entspricht die im Roman angestrebte "Überbrückung der Epochen" zwischen den beiden Erzählknoten 1910/11 bzw. 1923/25. Dazwischen liegt in beiden Fällen die "Tiefe der Jahre", symbolisiert in der Studlhofstiege, deren unregelmäßige Gliederung alle Passanten ihrem Rhythmus unterwirft, "ein Zwang für trippelnde Herzln und für trampelnde [SS-]Stiefel".

Auf seinem Weg dahin passiert Melzer einmal das Bürgerversorgungshaus, das "damals noch stand - statt des Parks, den der zweite Weltkrieg dann verwüstet hat". Das ist vertrackt. Bei keinem anderen der eingespielten Gebäude, die 1945 zerstört darnieder lagen, wird das erwähnt. Als Fehlstelle ins "Bild" gerückt wird just eines, das nicht zerbombt, sondern bereits 1928 demoliert worden war.

Lebensgefühl nach 1945

"Sind wir denn ein Evidenz-Büro? Das wäre ja schrecklich, wenn jeder ständig ein Wagerl voll von alten Sachen hinter sich dreinzöge". So heißt es im Roman ironisch über Editha Pastré, die vorgibt, sich an den zentralen Skandal auf der Strudlhofstiege nicht zu erinnern bzw. sich tatsächlich nicht erinnern kann, weil sie nicht Editha, sondern ihre Zwillingsschwester Mimi ist. Sie beansprucht also mit Recht, sich an Vergangenes nicht erinnern zu müssen, und spricht damit zugleich das Lebensgefühl nach 1945 aus. Eigentlich hebt das die Pflicht des Erinnerns für jene, die doch "dabei" waren -auf der Strudlhofstiege wie im Nationalsozialismus - nicht auf, doch das bleibt unausgesprochen. Der Autor hat gleichsam beides getan: Das Angebot gemacht, man darf/soll das Geschehene vergessen -und darin die Moral verborgen, man darf/soll das nicht tun, wenn man denn tatsächlich dabei war.

Ein Zeitkommentar ist letztlich schon das gewählte Figurenpersonal. Die Desavouierung des Militärs nach einem verlorenen Krieg trifft immer die Vorstellungsbilder der Gesamtgesellschaft. Fesche Leutnants und schneidige Offiziere werden als - martialische wie erotische -Sehnsuchtsfolie vorübergehend unbrauchbar. Mit Major Melzer und den jungen Herren der Konsular-Akademie schreibt Doderer gegen diesen Imageverlust an. Der metaphorischen Verwendung militärischer - ebenso wie bürokratischer und architektonischer - Diktion verdankt der Roman einen Gutteil seines sprachlichen Witzes. Zudem ist dem Militärjargon das ansonsten kaum betretene Feld der Kriegs-Erinnerung eingeschrieben. Auf Romanebene ist es der Erste, bei der Rezeption war es der Zweite Weltkrieg.

Die Umbrüche bleiben ausgespart

Ausgespart bleiben im Roman die Umbrüche von 1914/18,1933/34 und 1938 - also jene historischen Bruchstellen, an denen sich das Schicksal vieler Menschen in ein radikales Davor und Danach schied. Auf dem dicht geflochtenen Figurennetz ist ein lockeres Balancieren über diese Abgründe gewissermaßen trockenen Fußes möglich. Auch weil Doderers Figuren von den welthistorischen Ereignissen meist nicht wirklich affiziert werden. Ihre Leben ankern in "friedlichen Wassern, trotz des inzwischen über diese Menschen, die das gar nichts anging, von einigen Wichtigtuern des Ballhausplatzes verhängten ersten Weltkriegs". So heißt es über das kleinbürgerliche Figurenensemble im Häuschen im Lichtental, und das formuliert genau, wie die Zeitgenossen nach 1945 ihr Verhältnis zu den Gräueln des Nationalsozialismus interpretiert sehen wollten.

Und Doderer hat dieses zeittypische Bedürfnis nach Umgehung des Vergangenen zum Stilprinzip gemacht. Vom ersten Satz der Strudlhofstiege, der Mary K.s Unfall erwähnt, ist das Buch ein einziger langer Umweg, der nach vielen Schachtelsätzen und Einschüben viele hundert Seiten später zum tatsächlichen Unfallereignis führt. Das ist ein bemerkenswertes Beispiel dafür, wie sich ideologische Intention der grammatischen Struktur eines Werkes und der Sprache eines Autors einschreibt.

Für Doderer brachte der Roman im Alter von 55 Jahren den Durchbruch. Er hatte nach der "Buchparty" im Münchner Biederstein Verlag am 6. April 1951 den ersten Schwung an Rezensionen abgewartet und kehrte am 1. Juni, zwei Tage nach dem Tod Hermann Brochs im amerikanischen Exil, als gefeierter Autor nach Wien zurück. Damit stand auch seiner Aufnahme in den Österreichischen PEN-Club nichts mehr im Wege; war ein Antrag 1949 noch gescheitert, erfolgte sie nun, am 19. Februar 1952, ohne weitere Diskussionen. Nach der offiziellen Entnazifizierung im Juni 1947 war seine Rehabilitierung damit abgeschlossen. Gleichzeitig mit diesem Erfolg begann Doderer an einem neuen Habitus als exzentrisch-kauziger Sonderling zu arbeiten - eine Autorenrolle, die mit dem Exodus der österreichischen Intellektuellen 1938 verloren schien.

Veranstaltungstipp: Keime fundamentaler Irrtümer

Heimito von Doderer zum 50. Todestag

Symposion, 12. bis 14. Oktober 2016 Österreichische Gesellschaft für Literatur

Herrengasse 5, 1010 Wien, www.ogl.at

Kontinent Doderer

Eine Durchquerung

Von Klaus Nüchtern

C. H. Beck 2016 352 S., geb., € 28,80

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