"Ums Weiterleben flehen"

19451960198020002020

Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész gewährt im Tagebuch "Letzte Einkehr" radikale Einblicke in sein Leben, das eng mit dem Schreiben verwoben ist.

19451960198020002020

Der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész gewährt im Tagebuch "Letzte Einkehr" radikale Einblicke in sein Leben, das eng mit dem Schreiben verwoben ist.

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt Einschnitte im Leben eines Menschen, die man nie mehr aus dem Gedächtnis löschen, geschweige denn bewältigen kann. Auschwitz, Buchenwald, Isolation, innere Emigration. "Alles, was stattgefunden hat, beeinflußt alles, was noch stattfinden kann. Es läßt sich nicht ausradieren aus der Zeit, nicht ausradieren aus jenem Prozeß, den man in Ermangelung eines besseres Wortes Schicksal zu nennen pflegt."

Die Bücher des ungarisch-jüdischen Literaturnobelpreisträgers Imre Kertész zeigen schon immer eine radikale Auseinandersetzung mit den Narben seines Lebens, weil Schreiben und Denken um Wunden seiner Vergangenheit kreisen. Das geschieht nicht nur in seiner "Tetralogie der Schicksalslosigkeit", sondern auch in seinen stark autobiografisch grundierten Büchern wie "Ich - ein anderer", in dem er die Jahre 1991 bis 1995 als seelische Topografie eines Heimatlosen kartografiert, der die eigene Identität rigoros in Frage stellt.

Fremdheit im Heimatland

Seine jüngst erschienenen Tagebücher aus den Jahren 2001-2009 nennt Kertész "Letzte Einkehr". Diese vierteilige Prosa fußt auf sehr persönlichen Aufzeichnungen, die einerseits in zutiefst radikaler Manier Alter und Verfall durch die Parkinson-Erkrankung dokumentieren und in der er sich andererseits noch einmal kompromisslos und souverän seinen Lebensfragen und Werken stellt, die er luzide kommentiert und reflektiert. Es ist die "Geschichte eines Erkaltens, eines Leerwerdens", weil irgendwann das Schreiben nicht mehr funktionieren, ja vergehen wird: "Nun ist mein Leben eine durchlöcherte Geschichte geworden, eine flache, ausgelaugte Geschichte, ein leeres Schneckenhaus, in dem ich entsetzt kauere." Ganz pragmatisch sieht er dieses Buch auch als einen Weg, den er "zu Ende gehen" muss, "bis schließlich nichts mehr übrig bleibt". In einer editorischen Vorbemerkung beschreibt Ingrid Krüger den schwierigen Entstehungsprozess der Arbeit, in der Rohmaterial und Fiktion eine hybride Symbiose eingehen.

Wie ein roter Faden zieht er durch diese schonungslose Chronologie der jüngsten Jahre seine Lebensthemen, etwa das tragische Motiv der Fremdheit seinem Heimatland gegenüber. Das Bewusstsein, nicht zur ungarischen Literatur zu gehören, sondern vielmehr zur osteuropäisch-jüdisch deutschsprachigen von Kafka bis Celan - Kafka ist immer wieder präsent -, mündet in die Erkenntnis, in Ungarn niemals daheim sein zu können. Dieses Gefühl der Unbehaustheit verknüpft Kertész mit seiner jüdischen Herkunft: "Sie hassen dich, weil du Jude bist, sie hassen dich, weil du glücklich bist, sie hassen dich, weil du anderswo geschätzt wirst -sie hassen dich, weil du existierst." Kertész wirft seinen Kritikern sogar offenen Antisemitismus vor, auf den er mit Distanz reagiert. Es sei ein Leiden an "einer lebensgefährlichen Dosis Ungarn", "eine Frage der Psychohygiene", den Schritt der völligen Loslösung zu wagen.

Radikale Analyse seiner Zeit

Kertész' "Letzte Einkehr" protokolliert seinen Aufbruch von Budapest, seine temporäre Übersiedelung nach Berlin, wo er erstmals so leben kann, wie er immer gerne gelebt hätte. Berlin bedeutet für ihn eine neue Freiheit, eine Stadt, in der er sich den "geistigen Raum" schaffen kann, den er braucht: "Ich bin von Freunden umgeben, von einer wunderbaren Frau, und ich lebe -zum ersten Mal in meinem Leben -an einem Ort, den ich liebe." Dieses fragile Glück wird zunächst nur durch Persönliches eingeschränkt. Seine zweite Frau Magda, die in Budapest ihre Familie hat, ist zum Pendeln gezwungen und fühlt sich in der Fremde nicht wohl.

Noch einmal mehr dokumentiert dieses Buch, wie eng Kertész' Leben und Schreiben miteinander verwoben sind. Schreiben gehört zu seiner Existenz, ja er "kann nicht leben ohne schriftstellerische Pläne", aber es befällt ihn angesichts der fortschreitenden Krankheit im Kampf um Inspiration Ruhelosigkeit. Da ist das Bewusstsein, dass er sich mit allem, was ihm wichtig sei, beeilen müsse, das Leben in der Ambivalenz von Todessehnsucht und Lebenslust, "der Terror des Alters", der ihn und seinen "Körper" zu einem "Schauplatz und hilflosem Opfer zwischen Arbeit und Terminen werden lasse." Dann noch die radikale Analyse seiner Zeit, Glaubensfragen, die philosophische Beschäftigung mit Ich und Identität, der Luxus des Reisens, das von aphoristischen Gedankensplittern getragene finale Exit-Tagebuch und der Anker Musik: Konzerte, bewusstes Musik-Hören zu Hause, die besondere Liebe zu den Werken Mahlers, eine schwierige Freundschaft mit Ligeti und die Verbundenheit mit Barenboim, der ihm ein Opernlibretto abtrotzen möchte.

Obgleich diesem "Logbuch" Melancholie eingeschrieben ist, kontrastiert Kertész damit den Hunger nach Leben: "Einverstanden sein mit meinem weiteren Dasein. Was für ein Hochmut! Aber das bedeutet zugleich die Akzeptanz all dessen, was ich heute bin ... Vor allem weiter, die Arbeit fortführen ... Im Exil leben. Leben mit der Schmach des Seins. Ja, ums Weiterleben flehen." Kertész gehört zu den großen Schriftstellern unserer Zeit. Das bestätigt die "Letzte Einkehr" noch einmal sehr eindrucksvoll.

Letzte Einkehr

Tagebücher 2001-2009

Von Imre Kertész, Rowohlt 2013.

464 Seiten, gebunden,€ 24,70

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung