Umstrittene Landkarte der Geisteskrankheit

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Medizin • Die Neudefinition der Diagnostik psychischer Störungen im DSM-5 hat zu heftigen Debatten geführt.

Psychische Erkrankungen sind auf dem Vormarsch - eindrucksvoll belegt durch jüngste Daten, zum Beispiel dem dadurch bedingten Anstieg der Krankenstandtage, Pensions-Neuzugänge und Psychopharmaka-Verordnungen. Mit der aktuellen Neuauflage des "Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen“ (DSM-5) ist zu erwarten, dass der Anteil der psychisch kranken Personen weiter ansteigen wird - allerdings deshalb, weil die Diagnosekriterien geändert wurden. Durch Einführung neuer und erweiterter Diagnosen wird ein größerer Anteil von Menschen die Kriterien für eine psychische Erkrankung erfüllen. Beispiele für neue Störungen sind das "Messie-Syndrom“, definiert durch exzessives Horten von Gegenständen, oder der "Frotteurismus“, das heimliche Sich-Reiben an anderen Menschen. Auch das altersbedingte Nachlassen von Gedächtnisleistungen wird unter dem Begriff der "leichten kognitiven Störung“ neu eingeführt. Und für Kinder gibt es die neue Kategorie der "disruptiven Launen-Fehlregulationsstörung“, charakterisiert durch ständige Reizbarkeit im Kindesalter, verbunden mit schlechter Laune und Wutanfällen.

Bereits vor Einführung des neuen Diagnosesystems wurde Kritik an der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft laut, die für die DSM-Klassifikation verantwortlich zeichnet. Besonders wurde kritisiert, dass bei Verlust eines nahe stehenden Menschen bereits nach zwei Trauerwochen eine Depression diagnostiziert werden kann. Damit kann einer Pathologisierung natürlicher Leidenszustände, Anpassungs- und Alterungsprozesse Vorschub geleistet werden, wie Wolfgang Maier, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) konstatierte: "Die Einführung neuer Diagnosen und die Ausweitung der Grenzen psychischer Störungen können zu einer Medikalisierung von Problemen unserer Gesellschaft führen.“

Inflation der Diagnosen?

Im Bereich der psychischen Gesundheit sind die Grenzen zur Krankheit besonders durchlässig - und wandelbar. So ist gerade bei Kindern ein dramatischer Anstieg mancher psychischer Krankheiten auffällig geworden. In den USA haben in den letzten eineinhalb Jahrzehnten die bipolare Störung bei Kindern um das 40-fache und die Autismus-Fälle um das 20-fache zugenommen, berichtet der US-Psychiater Allen Frances in seinem viel beachteten Plädoyer gegen die "Inflation psychiatrischer Diagnosen“ (siehe unten). Auch unter dem Label der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung, das bereits seit den 1990er Jahren verstärkt diagnostiziert wird, sind heute drei mal so viele Betroffene zu verzeichnen als noch vor fünfzehn Jahren.

Andererseits werden psychische Erkrankungen nach wie vor tabuisiert. Psychisch Kranke werden daher teils verzögert oder gar nicht behandelt. Das Fazit europaweiter Studien läuft darauf hinaus, die Früherkennung und frühzeitige Behandlung dringlich zu fördern. Dies gilt vor allem für jene, die unbedingt medizinische Hilfe benötigen. "Die Leistungsansprüche bei einer Ausweitung des diagnostischen Spektrums auf Beeinträchtigungen ohne Krankheitswert überlasten das medizinische Versorgungssystem und gefährden damit eine gerechte Verteilung der begrenzten und ‚gedeckelten‘ Ressourcen unseres Gesundheitswesens - vor allem zum Nachteil psychisch schwer erkrankter Menschen“, warnt DGPPN-Präsident Maier.

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