(Un-)geliebte Mathematik

19451960198020002020

Wer gut rechnen kann, kommt besser durchs Leben. Gilt das auch weiterhin? Warum erweist sich Mathematik für viele Schüler als Stolperstein?

19451960198020002020

Wer gut rechnen kann, kommt besser durchs Leben. Gilt das auch weiterhin? Warum erweist sich Mathematik für viele Schüler als Stolperstein?

Werbung
Werbung
Werbung

Wer hätte das gedacht? "Zwei Fächer sind wirklich bedeutend für die Zukunft: Deutsch und Mathematik. Ersteres vor allem, um sich richtig auszudrücken, zweiteres als das Fach, das man überall braucht". Das meint jedenfalls die Entwicklungspsychologin Brigitta Rollet. "Millionen von Steuern werden zuviel bezahlt, weil die Menschen nicht rechnen können", verdeutlicht die Wiener Universitätsprofessorin die Bedeutung der Mathematik im Alltag. Ob es darum geht, überschlagsmäßig auszurechnen, welches der beiden Produkte im Supermarkt das günstigere ist - die Dose mit 500 Gramm Inhalt oder jene etwas billigere mit 300 Gramm Füllgewicht. Oder ob einem die Argumente fehlen, wenn der beste Freund nicht davon abzubringen ist, sein gesamtes Vermögen beim Roulett zu verspielen. "Wer gut rechnen kann, kommt besser durchs Leben", faßt Frau Rollett die Wichtigkeit der Mathematik nur allzu deutlich zusammen. Ja, auch wenn das Kapitel der Wahrscheinlichkeitsrechnung viele Jahre nach der Reifeprüfung nicht mehr spontan zum Abruf bereit liegt, so hilft es doch, einmal verstanden zu haben, daß die Chancen auf den großen Gewinn im Glücksspiel äußerst gering sind.

Die Mathematik erweist sich jedoch zunehmend als Stolperstein für schulische Laufbahnen. Zahlreiche Komponenten spielen hier zusammen, die den Schülern das Leben mit den Zahlen schwer machen.

Die Mathematik verursacht vor allem deshalb Schwierigkeiten, weil beide Gehirnhälften dabei intensiv zusammenarbeiten müssen. "Rechnen ist eine eigene Sprache, die man neu aufbauen muß", erklärt die Entwicklungspsychologin. Das Zahlenverständnis befindet sich nämlich in der linken Gehirnhälfte, wo auch das Sprachenzentrum zu Hause ist. In Sachen Raumordnung und räumliches Verständnis ist jedoch die rechte Gehirnhälfte zuständig. Ein funktionierendes Zusammenspiel der beiden Gehirnhälften ist also die Voraussetzung für gute Mathematiker.

Doch nicht nur die biologischen Grundlagen spielen eine wichtige Rolle. Auch das Umfeld, in dem ein kleines Kind aufwächst, nimmt Einfluß auf seine späteren mathematischen Fähigkeiten. Und da kommt es auf Dinge an, die man vorerst absolut nicht mit Formeln wie dem allseitsbekannten Satz von Pythagoras in Verbindung bringen würde.

So sollte mit dem spielerische Einüben mathematischer Grundlagen bereits im Alter von zwei Jahren angefangen werden. Man denkt vielleicht, das geht nicht, beginnt doch der kleine Mensch zu dieser Zeit gerade damit, die ersten richtigen Worte über die Lippen zu bringen. Doch da täuschen Sie sich: "Wir müssen die Alltagssituationen ausnützen, um den Kindern zu einem besseren mathematischen Verständnis zu verhelfen", empfiehlt Frau Professor Rollett. Wird einem Kind beim Tischdecken zum Beispiel bewußt gemacht, daß jeder einen Teller bekommt, und daß zu jedem Teller auch ein Löffel gehört, so entwickelt es ein Verständnis für Mengenbegriffe und für das Verteilen. Eine der wichtigsten Grundlagen der späteren hohen Mathematik.

Ebenso bedeutend ist beispielsweise das Mitzählen beim Stufensteigen. Bei kleineren Kindern kann man sich da vorerst mit eins und zwei, eins und zwei ... begnügen. Später wird es dem Kind dann gelingen, die Stufen bis in den dritten Stock zu zählen, bald bewältigt es den Aufgang des Wiener Stefansdoms und irgendwann weiß es von der Wahrscheinlichkeit zu berichten, mit der es im Lift schneller ist als zu Fuß.

Auch ganz einfache Dinge wie Zahlen- oder Würfelspiele sind als Training für zukünftige Rechenkönige nicht zu unterschätzen.

Heutzutage wird von Tafelklasslern verlangt, daß sie bereits zu Schulbeginn bis zehn zählen und bis fünf rechnen können. Das nötige Zahlenverständnis dafür wird im Kleinkindalter, im Kreise der Familie, jedoch nicht mehr so aufgebaut wie früher.

Fehlt erst einmal die Grundlage, kann von Einmaleins, Abstrahieren und dem richtigen Anwenden von Regeln keine Rede mehr sein.

Auf Fragen wie "Was ergeben zehn Zwetschkenknödel und fünf Zwetschkenknödel?" scheint ihnen die Antwort "Bauchweh" vorerst logischer als die abstrakte Zahl 15. Außerdem werden die Kinder und Jugendlichen mit einer Sprache konfrontiert, die ihnen im Alltag nicht geläufig ist. Schon die Unterscheidung zwischen "und" und "oder" kann dabei zu großen Mißverständnissen führen. Ganz zu schweigen von Textbeispielen, hinter welchen sich komplizierte Rechenoperationen verbergen. Schaffen es die Kinder nicht, Probleme wie diese zu bewältigt, so bleiben als Resultat nur Angst, Hilflosigkeit und Abwehr.

"Um Gottes Willen" heißt es dann beim Anblick von Wurzeln, Bruchstrichen und so weiter. Und das vielleicht ein ganzes Leben lang. Doch es kann noch schlimmer kommen: "Manchmal sitzen 30 Schüler mit unterschiedlichem Bezug zur Mathematik einem Lehrer gegenüber, der - wenn überhaupt - nur zum Teil auf die individuellen Fähigkeiten der Kinder eingehen kann", berichtet Oliver Prausmüller, Vorsitzender der Aktion Kritische Schüler. Einmal Nachfragen sei da für viele Schüler oft zu wenig, doch beim zweiten Aufzeigen fühlen sich die meisten schon als Störenfried.

Außerdem sind zahlreiche Mathematiklehrer wahre Koryphäen auf ihrem Gebiet. Na wunderbar, könnte man meinen. Doch halt: In ihrer Euphorie vergessen sie oft ihre grundlegende Aufgabe und verlaufen sich zu sehr in der höheren Wissenschaft. Die Mehrzahl der Schüler kann dem Unterricht nicht mehr folgen und fühlt sich überfordert. Ein Zustand der im Extremfall in der Panik vor Zahlen endet. "Schon der Anblick von Formeln löst dann einen erhöhten Ausstoß von Streßhormonen aus", erklärt Brigitta Rollett das Phänomen der Mathematikphobie. Nicht gerade die optimale Ausgangssituation für Einsteins Erben.

Doch so weit muß es erst gar nicht kommen. "Kinder haben nämlich von Grund auf Spaß am Rechnen und am Umgang mit Zahlen", so die Universitätsprofessorin für Entwicklungspsychologie. In Wirklichkeit mögen sie mathematische Spiele und Rätsel sehr, sehr gerne. "Erst wenn sie laufend überfordert werden", erläutert Brigitta Rollett "beginnen sie die Mathematik zu hassen."

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung