... und hätte die Liebe nicht

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In der Spannung zwischen Gut und Böse eröffnet fantastische Jugendliteratur einen Freiraum für ethische und moralische Fragen.

Umzingelt von der (Anders-)Welt des Fußballs, in den Bann geschlagen von der Masse der Fußballfans und des in Umlauf gebrachten Geldes, könnte man über wünschenswerte Gemeinsamkeiten von Fußball und Literatur sinnieren und käme - gemeinsam mit dem Kulturkritiker Manfred Wagner - zum Schluss, dass da wie dort ein ausgeprägtes Regelverständnis Voraussetzung für Spaß, Freude und Genuss an der Sache ist: Wer das passive Abseits nicht versteht, hat derzeit wenig zu reden ...

Starre Schemata

Verstärkte Bereitschaft zum Regelverständnis bringen jedenfalls Leser und Leserinnen von Fantasy mit. Zwar bemühen sich die Autorinnen und Autoren dieses Genres - entgegen allen Definitionsbestrebungen von wissenschaftlicher Seite - das Mischungsverhältnis bei den nicht-realistischen Erzählungen ständig abzuändern. Sie variieren in einem breit aufgefächerten Gattungsspektrum die Anteile aus den Märchen und der "high fantasy" und erweisen dazu auch dem Fantastikbegriff der Romantik alle Ehre. Dennoch funktioniert dieser Bereich der Literatur nach starren Schemata und einem präzisen Regelrepertoire, dem die Lesererwartungen folgen können oder der mit eben diesen Erwartungen lustvoll spielt.

Über dieses im Wesentlichen der Unterhaltung dienende Spiel hinaus befriedigt die Lektüre von Fantasy-Erzählungen auf hundert und aberhunderten von Seiten aber wohl vor allem auch eine tiefe Sehnsucht und ein legitimes Bedürfnis des modernen Menschen nach Orientierung in einer komplexen und weitgehend unüberschaubar gewordenen Wirklichkeit. Sie bedient sich dafür der Mittel der Reduktion durch klare Freund-Feind-Identitäten sowie der Kulisse einer meist vorindustriell und feudal dargestellten Gesellschaft im mittelalterlichen Ambiente, der ein einzelner Herrscher oder Diktator vorsteht, der so das konstruktive oder destruktive Prinzip verkörpert.

Nicht zuletzt diese Umstände tragen der Fantasy-Literatur seit jeher den Vorwurf ein, sie sei ihrer Struktur nach regressiv-reaktionär, autoritär und anti-aufklärerisch, patriarchal und anti-emanzipatorisch und antagonistisch. Dieser Vorwurf kann nicht generell vom Tisch gewischt werden, ist aber in gelungenen Beispielen längst unzutreffend. So spiegeln zwar die Tugenden der Protagonistinnen und Protagonisten durchaus noch höfische Traditionen, sie fächern sich aber bei genauer Betrachtung auf in moderne Inhalte bezüglich der Gender-Thematik, Freundschaft und Treue erhalten gesellschaftliche Relevanz durch Aspekte von Solidarität und Zivilcourage. Moralische Bewertung beruht auf selbstständiger Reflexion und nicht mehr auf hierarchischem Gehorsam. Auch wird mit den klaren Aufgabenstellungen an die Helden und Heldinnen das Gefühl an die Rezipienten und Rezipientinnen vermittelt, dass das Wirken des Einzelnen - trotz unbedeutender oder ungeklärter Herkunft - bedeutsam ist. Eine wichtige Erfahrung für (jugendliche) Menschen, die sich in der Anonymität der modernen Welten oft selbst nicht mehr spüren.

Warum das Böse

Fragen nach der Existenz des Bösen, nach Schuld und Verantwortung und nach der Möglichkeit von gutem und gerechtem Verhalten trotz aller Anfechtungen werden im Geschehen von Fantasy-Literatur zentral eingebunden: Fantasy als Anlaufstelle für ethisch religiöse Fragen in unserer säkularisierten Gesellschaft.

In diesem Kontext spannt sich nun folgerichtig der Entwicklungsbogen der - männlichen und weiblichen! - jugendlichen Protagonisten: Von einem Gefühl der Bedeutungslosigkeit über die überraschende Berufung bis hin zur Aufgabe - meist nichts weniger als die Rettung der Welt - und weiter zur Konstituierung der "Gefährten". Gemeinsam mit dem Freund, der Freundin vereinigen sich auf der Seite des Guten unterschiedliche Fähigkeiten und einander ergänzende Charaktereigenschaften und Temperamente zu einem Team, das im Vertrauen aufeinander die schier unlösbare Aufgabe übernimmt.

Übernatürliche Kräfte

Dazu fügt sich - quasi überwölbend - die Unterstützung symbolischer bzw. übernatürlicher Kräfte. Die gestellte Aufgabe und die damit verbundenen Teilaufgaben des "Weges", der "Suche" erfordern übermenschlichen Einsatz und Mut, für reichlich Spannung ist gesorgt. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang besteht von anfang bis zuletzt gegen jede Wahrscheinlichkeit, gegen jede Vernunft. Und so überrascht es kaum, dass in praktisch allen Beispielen kinderliterarischer Fantasy der Schlüssel für die Bewährung weder in der Perfektion einzelner noch in der Nutzung von Magie oder gar Gewalt liegt, sondern ausschließlich in der der Macht des Bösen völlig unzugänglichen und unvorstellbaren Macht der Liebe. Wer über dieses Geschenk der Liebe verfügt, ist bereit, Opfer und Entbehrung auf sich zu nehmen; und hat das Potential, verhärtete Strukturen aufzulösen, zu einem Befreier und "Erlöser" zu werden. Oder er ist - wie Harry Potter - beschützt sogar gegen den mächtigsten Zauberer.

Die Vertreter der Guten verstehen sich übrigens in allen Beispielen als "Hüter der Freiheit", während die Inkarnationen des Bösen beziehungsweise die dem Bösen anheim gefallenen Wesen als weitgehend willenlose Vasallen der Macht auftreten. Diese Vereinfachung erleichtert zwar ebenfalls das Verständnis, bedarf aber durchaus auch eines kritischen Augenmerkes: Denn es besteht die sehr verbreitete Neigung, die jeweils eigene Position - die zur Identifikation angebotene Perspektive - mit der des Guten gleichzusetzen, den "Anderen" bleibt die Position des Bösen überlassen. Eine in tagesaktuellen Bezügen leider durchaus nicht bloß andersweltliche Eigenheit ... Und so stehen in den Erzählungen jeweils individuell gezeichnete Helden und Heldinnen, deren Schicksal wir teilen, im Kampf oder gar in kriegerischen Auseinandersetzungen der "Achse des Bösen" gegenüber: Unpersönliche, "entmenschlichte", in der Masse anonymisierte Heere (wie Tolkiens Orks oder die Heere der Androiden in "Star Wars" oder die Mumienkrieger bei Kai Meyer).

Böses vereinfacht

Sogar der in seiner Haltung als besonders "christlich" gewürdigte C. S. Lewis lässt in seinen "Narnia"-Bänden die "letzte Schlacht" gegen entpersonifizierte dunkle Wesen austragen, die in penetranter Weise muslimische Züge aufweisen. Seine sonst so offenkundigen Parallelen zur christlichen Heilsgeschichte, in der Barmherzigkeit, Selbstopferung und Wiederauferstehung eine wesentliche Rolle spielen, unterliegen in solchen Szenen einem fremdenfeindlichen Eiferertum, das bis zum 2. Vatikanischen Konzil, bis in die 1970er Jahre noch durchaus dem Zeitgeist entsprach.

Erkennbare weltanschauliche Weiterentwicklungen - von Rowlings "Harry Potter"-Bänden über die beiden deutschen Autoren Christopher Zimmer und Kai Meyer bis zu Philip Pullmans Trilogie "His Dark Materials" - legen einen Erzählschwerpunkt in die zunehmend differenzierte Ausgestaltung der "guten" Charaktere. Ihre Anfechtungen durch das Böse werden glaubwürdiger - und in diesem Sinn auch "gefährlicher" -, weil es sich nicht länger um außenweltliche Angriffe sondern um innenweltliche, psychische Konfrontationen mit den eigenen Schattenseiten und Unvollkommenheiten handelt. Mit diesen negativen Aspekten des eigenen Ich konstruktiv umgehen zu lernen, markiert nicht nur den Übergang der kindlichen Heldinnen und Helden in die Erwachsenenwelt, sondern auch eine literarische Trendwende von der bloßen Abenteuergeschichte hin zum Entwicklungsroman.

Gegen Machtmissbrauch

Markant ist in diesen Erzählungen auch die Standortänderung der das Gute verkörpernden magischen oder überiridischen Wesen: Diese Leitfiguren bleiben nicht länger unhinterfragt in ihrer Rolle und ihren tieferen Absichten den Menschen gegenüber. Was bei Pullman sogar einer Demontage des Himmels gleichkommt, wird bei Kai Meyer als deutliche Warnung mit Blick auf angemaßte und missbrauchte Macht ausgesprochen: "Das Wort eines Gottes ist in Wahrheit immer nur das Wort desjenigen, der seine Standbilder errichtet." (Meyer, Das gläserne Wort") Solche Klarstellungen schließen nicht den Glauben an den großen, über allem stehenden Gott aus, prangern aber die Fragwürdigkeit menschengemachter und selbsternannter Gottheiten umso mehr an. Denn alles menschliche Streben - und sei es noch so perfekt technisiert oder magisch unterstützt - bedeutet nichts ohne die Liebe.

Die Autorin ist Leiterin der Studien- und Beratungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur in Wien.

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