"Und ich in großer Angst"

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Vor 450 Jahren starb Pontormo, der geniale Maler des fiorentinischen Frühmanierismus und Autor eines der seltsamsten Tagebücher. "Den Frost gab es nicht im Januar und er tobte sich aus in diesem Märzmond wo eine giftige Kälte sich gnadenlos niederschlug mit der angewärmten Luft ... dass es war wie Feuerprasseln im Wasser und ich in großer Angst ..." Pontormo

Als Michelangelo ein Fresko des kaum 20-jährigen Pontormo sah, soll er für dessen Malerei einen Platz im Himmel prophezeit haben: "porrà quest'arte in cielo!" Geworden ist daraus ein Dokument künstlerischen Ringens der Schwermut um Gnade. So eigenwillig wie Pontormo hatte noch kein Maler Theologie ausgedrückt - und so eindringlich die Angst, Gott könnte wirklich gestorben sein, wie um 1528, auf dem Höhepunkt seiner Kunst, in der Grabtragung Christi von Santa Felicità in Florenz.

30 Kilometer entfernt liegt Empoli, mit dem gesichtslosen Vorort Pontormo. In der Via Pontorme Nr. 97 ein schmales zweistöckiges Haus mit leblosen Fenstern: das Geburtshaus des Jacopo Carrucci da Pontormo, später einfach Pontormo genannt. Auf einer Tafel, angebracht 1994 zum 500. Geburtstag, liest man vom einsamen, stets nach neuem Ausdruck suchenden Künstler, verwandt dem Geist unserer Moderne. Tatsächlich wird Pontormo - ähnlich wie El Greco - von Kunsthistorikern und Malern des angehenden 20. Jahrhunderts neu entdeckt.

Die Kindheit verbrachte Jacopo im Angesicht des Todes. Nachdem ihm alle Familienmitglieder weggestorben waren, unterstellte man ihn und sein kleines Vermögen dem Mündelgericht in Florenz und gab ihn bei einem Schuster in Kost. Verbürgt sind Lehrzeiten bei dem exzentrischen Piero di Cosimo, in dessen Bildern immer ein geheimes Grauen mitschwingt, und bei dem streit-und eifersüchtigen Andrea del Sarto. Trotz früher Anerkennung wird Pontormo immer einsamer und grüblerischer.

Das Leiden am Körper

Drei Jahre vor seinem Tod und im neunten Jahr der Arbeit an den Chorfresken von San Lorenzo in Florenz beginnt Pontormo eines der ungewöhnlichsten Tagebücher zu führen. Als Il libro mio ist es ein Zeugnis von hypochondrischer Ängstlichkeit und existenzieller Angst. Er vermerkt darin akribisch, mit wem er was gegessen und wie er sich entleert hatte, wie das Wetter war, wen er getroffen und stehen gelassen hatte, wo er gerade mit seinem Körper nicht zurecht kam: "... ich habe Halsweh, kann etwas, das mir immer im Munde klebt, nicht ausspucken."

An den Rand seiner lakonischen Notizen setzt er winzige Skizzen von Gliedmaßen der Figuren, die er gerade in San Lorenzo in Arbeit hat. Sie erscheinen wie Hieroglyphen der Anstrengung zur Überwindung aller leiblichen Hinfälligkeit, zur Errettung aus Todesangst.

In San Lorenzo, der Familienkirche der Medici, sollte ein ebenbürtiges Gegenstück zu Michelangelos Jüngstem Gericht entstehen, so wollte es Herzog Cosimo. Pontormo hatte vor dem Malgerüst im Chor einen hohen Verschlag anbringen lassen, hinter dem er seine Arbeit vor den Zeitgenossen verbarg. Niemand sollte sehen, was da mit unglaublicher Gewagtheit entstand, "ohne Ebenmaß noch irgendwelcher Ordnung", wie Giorgio Vasari, der "Vater der Kunstgeschichte", befand. Über apokalyptischem Unheil, über ineinander verkrallten, verwesenden Leibern schwebt der "Christus in der Glorie" mit weit geöffneten Segenshänden, nicht Richter, sondern Erlöser.

Vermutlich am Neujahrstag 1557 starb Pontormo. Begraben wurde er jedenfalls am 2. Jänner. Vasari vermutete, dass neben allgemeiner Erschöpfung "völlige Unzufriedenheit mit sich selber" seinen Tod beschleunigt hätte. Sein Schüler und Vertrauter Agnolo Bronzino stellte das Freskenwerk fertig.

Gemalte Ketzerei

Vasari, der Biograf und Malerkollege, verstand nicht, "was er in jenem Teil ausdrücken wollte, wo oben Christus ist, der die Toten auferweckt, und ihm zu Füßen Gottvater, der Adam und Eva erschafft." Welche visionäre Zusammenschau von Brudermord, Sintflut, Auferstehung des Fleisches und Erschaffung der Eva mit der Wiederkunft Christi am Ende der Zeit! Vasari witterte Häresie - und das nicht ganz zu Unrecht. Vieles weist darauf hin, dass Pontormo - wie Michelangelo und andere Künstler - den Kreisen der "Nikodemiker" und "Spirituali" zuzurechnen ist, den Anhängern einer von der Inquisition als gefährlich eingestuften (noch) katholischen Reformbewegung. Über die "guten Werke" und die Vermittlerrolle der Institution Kirche stellten sie den Glauben, "dass der Sohn Gottes all unsere Sünden durch sein teuerstes Blut ausgetilgt hat". Das ist ein Kernsatz des Beneficio, jenes Büchleins Von der Wohltat des gekreuzigten Christus, anonym verfasst von einem gewissen Fra Benedetto da Mantova, wie wir heute wissen. In mindestens 50.000 Kopien kursierte es vor 1550 in Italien, bis es von der Inquisition mit unglaublicher Strenge gesucht und "zu Tausenden auf Scheiterhaufen verbrannt" worden war. Pontormos Freskenwerk von San Lorenzo soll die bildliche Umsetzung des Beneficio gewesen sein, "voll eindringlicher Leuchtkraft", wie es noch in einer Quelle von 1688 heißt.

Uns sind von den elf Jahren "Geistesqual" mit den Fresken lediglich zwei Dutzend Zeichnungen und Entwurfsskizzen geblieben. Bei der Erneuerung des Chorraumes im Jahr 1742 hat man die Malerei völlig zerstört. Offenbar verstand man auch zwei Jahrhunderte nach Pontormo weder den künstlerischen noch den spirituellen Wert. "Ein Verlust, leicht zu verschmerzen", urteilte ein Zeitgenosse.

Pontormo-Erkundungen

Die meisten Werke von Pontormo befinden sich in Florenz oder im näheren Umkreis. Drei davon seien dringend empfohlen. Die erste liegt auf einer Anhöhe südlich von Florenz, in der Certosa Galluzzo. Als Pontormo 1523 vor der Pest aus Florenz floh, boten ihm die Mönche der Kartause Zuflucht. Als Gegenleistung malte er ihnen die Passion Christi - mit frappierenden Anklängen an Dürers Holzschnittpassionen - in fünf Arkadenbögen des Kreuzganges. Heute zeigt man im Refektorium der Kartause, was Witterungsschäden und mangelhafte Restaurierungsversuche hinterlassen haben: Bildruinen, deren Seele allerdings unzerstörbar lebendig geblieben ist. Schemenhafte Umrisse neben kühnen, expressionistischen Farbkontrasten erzählen das Leiden der Bilder vom Leiden Christi

Drei Jahre später malte Pontormo ein großes Altarbild für die Familie Pinadori in Carmignano. La Visitazione ist die Begegnung von vier Frauen, im Vordergrund Maria mit der älteren Verwandten Elisabeth. Carmignano, ein Städtchen etwa 20 Kilometer von Florenz entfernt, ist bekannt für sein Öl und seinen Wein - und für dieses Bild. Wer es in der Kirche San Michele besucht, ist meist mit ihm allein. Ein müder Scheinwerfer leuchtet es so mangelhaft aus, dass erst nach langem Hinschauen die gespenstische Szenerie sichtbar wird, vor der sich die Begrüßung der Frauen überlebensgroß abspielt: die kalte Perspektive einer nächtlichen oder gewitterdunklen Gasse, vor einem Toreingang zwei gnomenhaft winzige männliche Gestalten. Was hat man in die vier Frauen und ihren Reigen aus leuchtenden Farben, sanften Gesten und eindringlichen Blicken nicht schon alles hineininterpretiert! Von der ikonografischen Assoziation zu Dürers Vier Hexen bis zu jenen Deutungen, die in der Heimsuchung eine Anspielung auf die Verbindung zwischen Altem und Neuem Testament oder gar eine Vision von der Versöhnung der Kirche Roms mit der jungen reformatorischen Bewegung sehen wollen. Als genügte es nicht, darin "nur" zu sehen, was man sieht: wie sich hier Anmut der Jugend und Milde des Alters - in unheilschwangerem Ambiente - zärtlich umarmen, wissend um das Geheimnis der Menschwerdung.

Aber jetzt nach Santa Felicità, in die kleine Kirche in Florenz zwischen dem Ponte Vecchio und dem Palazzo Pitti, in der sich in der rechten Seitenkapelle Pontormos wohl berühmtestes Bild befindet: Die Grabtragung Christi. Da steht man am schmiedeeisernen Gitter, die Hände umklammern das kalte Gestänge, der Lichtautomat frisst Münze um Münze. Soviel Angst ist in diesem Bild und soviel helle Verzweiflung in einem gnadenlos-gnädigen Licht! Pier Paolo Pasolini, ein großer Verehrer Pontormos, sah in diesem Licht "Farben, die mitten in die Brust leuchten".

Hochseilakt der Manieristen

Die Mitte des Bildes ist das Tuch in der linken Hand der Maria Magdalena, unsichtbar getränkt mit dem Blut des Erlösers. Die Hand greift ins Leere. Alles scheint zu schweben, Figuren und Farben, Gewänder und Körper. Es ist das Schweben eines lautlosen Weinens, "als ob der liebe Gott gestorben wäre", wie es in einer Gedichtzeile von Else Lasker-Schüler heißt. Die angstvollen Blicke der Jünglinge, die den leblosen, vom Schoß der Mutter geglittenen Leib tragen, suchen Halt beim Betrachter. Pontormo malte sich selbst an den Rand. Folgt man seinem Blick, trifft man ins Zentrum der Kuppel der kleinen Kapelle. Dort wartete einst Gottvater auf die Heimkehr des Sohnes. Aber die Zeit hat das ganze Bildensemble gnadenlos fortgeschrieben: 1766 wurde mit der Absenkung der Kuppel nicht nur Brunelleschis architektonisches, sondern auch Pontormos theologisch-malerisches Konzept zerstört. Pontormos Selbstporträt blickt heute auf den weißen, leeren Verputz, "als ob der liebe Gott gestorben wäre ..."

Nicht nur Pontormo, auch andere italienischen Maler der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wirken wie Seismografen neuer religiöser Ideen, in denen die Sehnsucht danach brennt, "dass der Mensch der Gnade Gottes völlig gewiss sein könne". Dem spirituellen Anarchismus der toskanischen Maler wie Pontormo, Rosso Fiorentino und Beccafumi stehen in Oberitalien Lorenzo Lottos subversive Frömmigkeit, Correggios himmelstürmender und mitunter unerträglicher Liebreiz und die verrätselte, extravagante Schönheit Parmigianinos gegenüber. In allen vibriert dieselbe Unruhe des Herzens, die verzweifelte Suche nach einem Entkommen aus Pest, Krieg und einer verlotterten Religiosität. Der Kunsthistoriker C. G. Argan vergleicht sie mit Hochseilakrobaten, deren eleganter Schritt zu tanzen scheint, wo sie - halbtot vor Angst - nur versuchen, nicht abzustürzen.

In einem Brief an den Poeten und Historiker Benedetto Varchi bekennt Pontormo die Vermessenheit des Malers, der sich einen Gegenstand ausgesucht hat, "der soviel Kunst und Wunder verlangt und ziemlich göttlich ist", durchdrungen vom Willen, "die Natur zu übertreffen". Und es ist, als ob sich die Natur für diese Kampfansage rächt, wenn sie den Künstler dafür in nahezu tägliche körperliche Ängste stürzt. Im Frühling 1555 schrieb Pontormo in sein Tagebuch: "Den Frost gab es nicht im Januar / und er tobte sich aus in diesem Märzmond / wo eine giftige Kälte sich gnadenlos niederschlug / mit der angewärmten Luft ... dass es war wie Feuerprasseln im Wasser / und ich in großer Angst ..."

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