Und in der Todeskugel Gitta Gordon

19451960198020002020

Die Geburtsstunde des Urfahranermarktes schlug am 20. März 1817, eine Ausstellung und ein Bildband feiern das Jubiläum. Die FURCHE sprach mit Georg Thiel, Kurator des Linter Stadtmuseums Nordico, über Sozialromantik, Skurrilitäten und Schaulust.

19451960198020002020

Die Geburtsstunde des Urfahranermarktes schlug am 20. März 1817, eine Ausstellung und ein Bildband feiern das Jubiläum. Die FURCHE sprach mit Georg Thiel, Kurator des Linter Stadtmuseums Nordico, über Sozialromantik, Skurrilitäten und Schaulust.

Werbung
Werbung
Werbung

Zuckerwatte, Schweinsbratwürstel und Sauerkraut - der Urfahraner Markt ist eine fixe oberösterreichische Institution. Heuer feiert der älteste Jahrmarkt Österreichs seinen 200. Geburtstag. Im Nordico ist dem Urfahraner Markt die Ausstellung "200 Jahre Linzer Lustbarkeiten" gewidmet, der gleichnamige Begleitband bietet über die Dauer der Schau hinaus interessante Einblicke in Linzer Stadtgeschichte, Alltagskultur, Schaulust und Vergnügen.

Die FURCHE sprach mit dem Historiker Georg Thiel (der zusammen mit der Leiterin des Stadtmuseums Nordico, Andrea Bina, für Ausstellung und Band verantwortlich zeichnet) über die historische, soziale und ökonomische Bedeutung des Urfahraner Marktes, über Schausteller und Marktfieranten.

DIE FURCHE: Am 20. März 1817 erteilte Kaiser Franz I. Urfahr das Privileg, sowohl im Frühjahr als auch im Herbst einen Markt abzuhalten. Seitdem verwandelt sich der große Parkplatz an der Urfahraner Donaulände zwei Mal jährlich in einen Jahrmarkt. Heute assoziieren wir damit Vergnügen, war das schon immer so?

Georg Thiel: Nein, der Urfahraner Markt war ursprünglich eine reine Verkaufsveranstaltung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wie Hopfen, Getreide und Flachs. Daneben wurden gewerbliche Produkte angeboten, beispielsweise Leinen oder Sensen. Nicht zu Unrecht ist der Markt auch als "Schaufenster des Mühlviertels" bezeichnet worden. Die Vergnügungssparte ist erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts dazugekommen. Der Markt wird übrigens erst seit 1902 an der Donaulände abgehalten, er hatte zuvor verschiedene andere Standorte.

DIE FURCHE: Die frühere Messehalle des Marktes bot wichtige Innovationen an. Auf welchen Gebieten war der Urfahraner Markt bedeutsam?

Thiel: Die Messehalle gibt es seit 1955 und das eigentlich Innovative bestand zunächst darin, dass man auch bei schlechter Witterung trockenen Hauptes einkaufen konnte. Und zwar ein breit gefächertes Warenangebot. Das war in der Zeit vor den Großkauf- und Einrichtungshäusern sensationell. Der Urfahraner Markt zeichnet sich bis heute dadurch aus, dass er alle Bedürfnisse von der Wiege bis zur Bahre abdeckt. Von der Säuglingskleidung über die Wohnungseinrichtung bis hin zum schmiedeeisernen Grabkreuz.

DIE FURCHE: Welche Rolle spielt die Donau als Handelsweg für die Entwicklung des Urfahraner Marktes?

Thiel: Die Donau hat generell eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Handelsplatzes Linz gespielt, auch wenn sie, wie der Sozialhistoriker Roman Sandgruber gesagt hat, für die meisten Produkte leider in die falsche Richtung und ins falsche Meer fließt. Sie ist darüber hinaus auch für die literarisch einzig relevante Auseinandersetzung mit dem Urfahraner Markt namensgebend: Franz Kains Novelle "Die Donau fließt vorbei."

DIE FURCHE: Gibt es entscheidende Zäsuren in der Geschichte des Urfahraner Marktes?

Thiel: Ich würde die Erlaubnis zur Ausschank von Bier als wesentlich erachten. Die wurde 1911 erstmals erteilt. Das Bierzelt ist heute eine der tragenden Säulen des Marktes.

DIE FURCHE: Der Rummelplatz ist mit sozialromantischen Vorstellungen verbunden. Attraktionen wie "Damen ohne Unterleib", "Kettenentfesselungskünstler" und todesmutige Artisten zogen Schaulustige an. Doch wie sah das Leben der Menschen aus, die unter dem Begriff "fahrendes Volk" abgewertet wurden?

Thiel: Prinzipiell hängt es von der Art der Attraktion ab: Es macht einen Unterschied, ob Gitta Gordon in der sogenannten Todeskugel auf einem Motorrad waghalsige Manöver vollzieht oder ob eine ins Auge fallende Abweichung von der Norm zu Markte getragen wird. Wenn die "dicke Mitzi" ihre Körperfülle von 265 Kilo zur Schau stellt oder ein Hermaphrodit mit den Worten "Adam und Eva - ein echter Mensch, keine Wachsfigur" angepriesen wird, dann ist es mit der Sozialromantik nicht weit her. Man kann auf jeden Fall davon ausgehen, dass das Leben als Schausteller ein hartes und mühevolles war. Viele haben untereinander geheiratet. "Wir sind wie die Habsburger", lautet ein selbstironisches Zitat.

Die Schausteller, mit denen ich gesprochen habe, sehen sich nicht unbedingt als fahrendes Volk, da sie außerhalb der Saison sesshaft sind. Der Begriff wird eher auf Personen aus der Volksgruppe der Roma und Sinti angewandt, obwohl diese nach 1945 nur noch vereinzelt, etwa als Teppichhändler, in Erscheinung getreten sind.

DIE FURCHE: Der Rummel ist auch beliebter Schauplatz in der Theaterliteratur: Molnárs "Liliom" etwa arbeitet als "Hutschenschleuderer" und Horváths "Kasimir und Karoline" spielt am Münchner Oktoberfest. Dass an diesem speziellen Ort Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsschichten zusammenkommen, feiern und für einige Stunden egalitär werden, auch darauf nimmt Ihr Band vor allem mit Bildmaterial Bezug. Besteht das Reizvolle darin, dass man sich einmal im Jahr außerhalb der gesellschaftlichen Grenzen und Normen bewegen kann?

Thiel: In Linz könnte man das theoretisch sogar zwei Mal, da es einen Frühjahrs- und einen Herbstmarkt gibt. Ich hatte aber den Eindruck, dass sich alles innerhalb der gesellschaftlichen Grenzen bewegt. In früheren Polizeiberichten findet sich mit schöner Regelmäßigkeit der Satz: "Die Alkoholdisziplin war gut." Zwischen Jahrmarkt und Saturnalien scheint es wesentliche Unterschiede zu geben. Das mag damit zusammenhängen, dass es eine Sperrstunde gibt und nicht ad ultimo gefeiert werden kann. Die Frage nach den Reizen ist schwierig zu beantworten. Jahrmärkte sind in der Kindheit und Jugend ein großartiges Umfeld.

DIE FURCHE: Was unterscheidet den Urfahraner Markt von anderen Jahrmärkten, Kirtagen und vom Wiener Prater ?

Thiel: Im Prater findet man weder Venensocken, Weihwasserpinsel oder die seit Generationen bewährte tibetische Weihrauchsalbe gegen Gelenkschmerzen. Im Gegenzug dürften die Chancen auf einen Bauchstich am Urfahraner Markt deutlich schlechter stehen.

DIE FURCHE: Haben Sie auch eine Lieblingsattraktion?

Thiel: Offen gesagt habe ich bei der Beschäftigung mit dem Thema mit der Ungnade der späten Geburt gehadert. Denn natürlich hätte ich keine Sekunde gezögert, mir die dicke Mitzi und den Hermaphroditen anzusehen, die bis in die 1950er-Jahre aufgetreten sind. Mich hätte auch interessiert, als Zuseher in den 1970er-Jahren einem Blunzenwettessen beizuwohnen. Doch: Es hat nicht sollen sein!

Urfahraner Markt bis 21. Mai, NORDICO

Di bis Do 10-18 Uhr, Do bis 21 Uhr

www.nordico.at.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung