Ungarn: Gefahren in der Mehrheit

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Der Berliner „Tagesspiegel“ sieht Ungarn von einem demokratiefördernden politischen Gleichgewicht der Kräfte ein beträchtliches Stück entfernt.

Die Wende in Mitteleuropa 1989/90 bleibt einer der großen Vorgänge der Epoche. Dass Ungarn dabei eine wichtige Rolle gespielt hat, wissen nicht zuletzt die Deutschen, für die die demonstrative Zerschneidung des Stacheldrahts an der ungarisch-österreichischen Grenze im Sommer 1989 den ersten Schritt zur Wiedererlangung ihrer Einheit bedeutete. Das umsturzhafte Ergebnis des ersten Wahlgangs der Parlamentswahlen am Sonntag ist deshalb ein Ereignis, das uns und alle anderen Europäer angeht. Denn es ist das Zeichen einer Krise.

Gewiss, der Erfolg des Nationalkonservativen Viktor Orbán und das Eindringen der rechtsextremen Protestpartei Jobbik ins Budapester Parlament sind auch die resigniert-verzweifelte Reaktion auf eine miserable wirtschaftliche Lage, einer rapiden Verschuldung und der zunehmenden sozialen Zerrüttung des Landes. Sie sind, natürlich, auch eine Quittung für die seit acht Jahren regierenden Sozialisten, die sich als ernstzunehmender politischer Faktor selbst zerstört haben und denen schließlich auch die notwendige rigorose Sparpolitik der letzten Jahre angekreidet wurde. Aber sie ist auch die Konsequenz einer seit Jahren anhaltenden politischen Konfrontation und Polarisierung der Parteien und Lager, die das politische Klima im Land schon ziemlich ruiniert hat.

In den emotionalen Randzonen der Politik gefischt

Oder was besagt es sonst, wenn zwanzig Jahre, nachdem sich das Land auf demokratische Füße gestellt hat, die Menschen ihre Hoffnung auf einen Politiker setzen, der mit aggressiver Attitüde und populistischer Rhetorik der Macht hinterherjagt? Der einstige Liberale, dessen Partei die europäischen Liberalen inzwischen ausgeschlossen haben, brüskierte das Parlament und fischte entschlossen in den nicht-geheuren emotionalen Randzonen der Politik – der pathetisch-vagen Beschwörung von Glauben, Heimat und Ungartum, garniert mit der Warnung vor Überfremdung. Während daneben fremdenfeindliche und antisemitische Stimmungen züngeln. Die Partei, die sie tragen, und deren militantes Auftreten und abstruse Verlautbarungen fatal an die einstigen ungarischen Faschisten, die Pfeilkreuzler, erinnern, bekam am Sonntag mehr als 16 Prozent.

Das ist ein deprimierender Befund. Er demonstriert drastisch, dass Ungarn von dem demokratiefördernden politischen Gleichgewicht der Kräfte und Argumente noch ein beträchtliches Stück entfernt ist. Noch immer ist es Beute einer verunsichernden Vergangenheit, wozu der politische Stillstand der kommunistischen Diktatur ebenso gehört wie die autoritären Strukturen davor. […] Gänzlich offen ist, was Orbán tun wird. Wird er sich nun, da er an der Macht ist, der billigen pragmatischen Devise entsprechen, dass keiner so heiß isst, wie er es rhetorisch anrichtet? Oder – falls er im zweiten Wahlgang eine Zweidrittelmehrheit bekommt – dem politischen System präsidiale, die Parteienkonkurrenz weitgehend an den Rand drängende Züge aufdrücken? Nicht zuletzt: Wird er den Kampf gegen die Rechtsextremen aufnehmen […]?

Der Wahlsieger des Sonntags kann sich nicht beklagen, wenn sein Erfolg Europa in einen Zustand gespannter, abwartender Aufmerksamkeit versetzt. Die Formeln und Formen, mit denen er spielt, seine national-populistischen Ansprüche und seine Praxis der Abgrenzungen rühren an tiefe Traumata in einer Staatenwelt, die bittere Erfahrungen mit der Deformation der Demokratie gemacht hat. Mitteleuropa ist wieder Teil des ganzen Europas. Aber seine politischen Strukturen sind längst nicht so stabil, dass es sicher gegenüber jedem politischen Beben ist. Und Ungarn ist dabei, den Aufbruch in die selbstbestimmte Freiheit auf eine gefährliche Probe zu stellen.

* Tagesspiegel, Berlin, 13. April 2010

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