Unheimlich ist gleich heimlich

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Migration wird buchstäblich als "unheimliche Heimsuchung" erlebt: Was Sigmund Freud 1919 in seinem Essay "Das Unheimliche" analysiert hat, zeigt sich auch in aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeiten.

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Migration wird buchstäblich als "unheimliche Heimsuchung" erlebt: Was Sigmund Freud 1919 in seinem Essay "Das Unheimliche" analysiert hat, zeigt sich auch in aktuellen gesellschaftlichen Befindlichkeiten.

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Xenophobie, Fremdenhass und emotionale Kälte sind nicht die einzigen negativen Kategorien, welche die Einstellungen gegenüber einer von Flüchtlingskatastrophen und ausgedehnten Migrationsbewegungen gekennzeichneten politischen Lage mitbestimmen. Denn darüber hinaus kann nicht geleugnet werden, dass von diesen als "Flüchtlingsströme" bezeichneten Großwanderungen etwas Bedrohliches ausgeht, das zugleich den Charakter des Unheimlichen in sich trägt. Was aber ist dieses Unheimliche, das bestimmten Situationen, Menschen und Gegenständen anhaftet und in uns ein Gefühl hervorruft, dessen Qualität so wenig prägnant bestimmbar ist?

Im Unheimlichen begegnen wir einem Begriff, der zwar dem Bereich des Angstmachenden und Grauenerregenden angehört, aber doch einen Sonderstatus für sich in Anspruch nehmen darf. Für dessen tieferes Verständnis hat Freud 1919 in seinem Essay "Das Unheimliche" zwei Zugangswege vorgeschlagen: über die Frage nach der Bedeutung, die die Sprachentwicklung diesem Wort unterlegt hat, und andererseits über das Zusammentragen all dessen, was sich mit dem Phänomen verbindet, um aus dem Gemeinsamen den verhüllten Charakter der Unheimlichkeit herauszuarbeiten.

Von der Ambivalenz des Unheimlichen

In erster Näherung ergibt sich aus beiden Ansätzen, dass das Unheimliche jene Art von Angst ist, welche auf Altbekanntes und Längstvertrautes zurückgeht. Sprachanalytisch zeigt sich dieser Sachverhalt vor allem aus einer Untersuchung des Begriffs "unheimlich", weil er zwangsläufig eine Paradoxie zu Tage treten lässt, die in anderen Sprachen so nicht zum Ausdruck kommt. Denn durch seine Fassung als Negation vermag das Wort "un-heimlich" ein Gegensatzpaar sowohl zu vereinigen als auch zu trennen, indem es auf der einen Seite "heimlich" im Sinne von "heimelig", "vertraut", "gewohnt" beinhaltet, aber auch eine Gegenbedeutung im Sinne von "fremd" und "geheimnishaft" mit sich führt. Daraus ergibt sich der Widerspruch, wonach das "Heimliche" und das "Unheimliche" dasselbe sind. Andererseits aber auch die Erkenntnis, dass sich in diesem Begriff die Ambivalenz ausdrückt, wonach das Unheimliche all das ist, was ein Geheimnis und damit im Verborgenen bleiben sollte, was aber tatsächlich daraus hervorgetreten ist. Dieser Doppelcharakter ist in all den Beispielen nachzuweisen, die Freud nicht zuletzt mit dem Hinweis auf Literaturvorlagen der Romantik identifiziert.

Zunächst imponieren Erscheinungen von Animismus, bei welchen entweder ein Zweifel an der Beseelung oder aber an einer offensichtlichen Leblosigkeit von Menschen oder Gegenständen vorherrscht. Von wesentlicher Bedeutung sind auch das Doppelgängertum und telepathische Phänomene, bestimmte Erscheinungsweisen der Wiederholung und die beständige Wiederkehr des Gleichen. Ferner Gelegenheiten, bei welchen sich die Allmacht der Gedanken aufdrängt, Situationen von Magie und Aberglauben sowie Momente der Ahnungen und Vorahnungen. Menschen mit bestimmten Krankheiten, aber auch jenen, denen wir böse Absichten unterstellen, indem wir Merkmale an ihnen feststellen, die uns fremd anmuten oder die wir mit Zauberkräften in Verbindung bringen - etwa Träger des bösen Blicks -, Erscheinungen, die auch in unserer Kultur nicht wirklich verschwunden sind, tragen ebenso die Marken des Unheimlichen. Ebenso wie fast alles, was mit Tod, toten Körpern und mit Geschichten von Geistern und Gespenstern in Zusammenhang zu bringen ist. Hier setzt die Bedeutung von Religionen ein, die vor allem darauf gerichtet sind, der Unheimlichkeit hinsichtlich der "letzten Fragen", der Vorstellungen der Leere, des Nichts und des Unendlichen, Antworten entgegenzusetzen.

Die Wiederkehr der Toten

Das Unheimliche als häufiger Begleiter von Einsamkeit, Stille und Dunkelheit verweist auf prekäre Situationen, in welchen sich die Stütze der äußeren Wahrnehmungswelt so reduziert, dass sich die Grenzen zwischen Fantasie und Wirklichkeit verwischen und etwas real vor uns hintreten kann, was wir bislang für fantastisch oder aber unter Verschluss gehalten haben. Desgleichen kann sich ereignen, wenn wir wie im Kastrationskomplex der vernichtenden Gewalt des Verlusterlebnisses einer fantasierten ursprünglichen Vollkommenheit und Unversehrtheit gegenüberstehen.

Die Vorsilbe "un" im Unheimlichen ist für Freud die Marke der Verdrängung. Sie verweist darauf, dass das Unheimliche das Heimliche-Heimische ist. Aber dennoch ist nicht alles, was aus der Verdrängung wiederkehrt, automatisch unheimlich. Vielmehr geht es hier um Archaisches oder längst Vergangenes und das, was an verdrängte Wunschregungen und überwundene Denkweisen sowohl der individuellen Vorzeit als auch der Völkerurzeit gemahnt. Demnach kommt das Unheimliche als Erlebniskategorie (im Gegensatz zum Unheimlichen der Fiktion wie etwa in der Dichtung) zustande, wenn verdrängte infantile Komplexe durch einen Eindruck wiederbelebt werden oder wenn überwundene primitive Überzeugungen wieder bestätigt scheinen.

Das Unheimliche ist aber auch jeder Situation innewohnend, wo ich mich erfasst fühle von jenem Anderen, der mir einst als Fremder entgegengetreten ist, der mir aber zugleich die Garantie meiner Identität verliehen hat. Die Begegnung mit dem Unheimlichen am Schnittpunkt von vernichtender Entfremdung und aneignender Identifizierung erweist sich dabei als Wiederholung jenes Akts, in dem ich mich erstmals selbst in meinem Spiegelbild erkennen, begreifen und erfassen konnte. "Ich ist ein anderer" sagt der Dichter Rimbaud in Bezug auf ein Selbstbewusstsein, das dem fremden Anderen geschuldet ist. Erst die Anerkennung dessen eröffnet den Weg zur Anerkennung der Differenz als Anziehungskraft des Gegensatzes. Wer aber in der narzisstischen Illusion des Ähnlichen als Garant der Identität verstrickt bleibt, erlebt die verdrängte Entfremdung und das abgewehrte Fremde des eigenen Selbst als die Wiederkehr eines nach außen projizierten Unheimlichen, sodass auch alles, was sich einem "Gleich und gleich gesellt sich gern" widersetzt, als prinzipielle Bedrohung erlebt wird.

Vor diesem Hintergrund wird auch das aktuelle Migrationsphänomen buchstäblich als unheimliche Heimsuchung erlebt. Dies umso mehr, als diese "Völkerwanderung" als Invasion des Fremden mit einem verdrängten Trauma verbunden ist, das sich traumatisierend wiederholt, jedoch in einer Konstellation der Umkehrung. In einem beachtenswerten Essay weist der Schriftsteller Christoph Ransmayr darauf hin, dass das aktuell Bedrohliche, das über die Migrationsbewegungen hinaus auch den Terror blindwütiger und religiös verseuchter Berserker mit einschließt, Erinnerungen an die Wurzeln eines Hasses wachruft, von denen manche tief in unsere eigene Geschichte hinabreichen: "Jahrhundertelang hat Europa nahe und fernste Kulturen überrannt, ausgebeutet oder zerstört und damit den eigenen Wohlstand begründet."

Im Schatten von Völkermorden und Vernichtungsorgien im Namen eines grausamen Gottes scheint sich im beunruhigenden Zug eines stillen, unbewaffneten, führerlosen, anonymen und unaufhaltsamen Migrationsheeres eine Inkarnation zu ereignen, die im Namen des "Wiedergängers" ein Zurückkommen von Toten in den Bereich der Lebenden symbolisiert. Im Auftauchen eines historischen und geografischen Jenseits wiederholt sich eine Vergangenheit, die uns eher überwältigt, als dass wir sie bewältigen könnten.

Der Autor, Psychoanalytiker, ist Mitbegründer Neuen Wiener Gruppe / Lacan-Schule

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