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Eine Nation ist keineswegs eine ahistorische Existenz. Sie gründet sich auf Ereignisse und bewältigte Krisen. Genau das fehlt Österreichs Selbstverständnis.

Österreich gilt als Kulturgroßmacht, als Naturperle, Hochburg der Kulinarik et cetera. Neben solchen nationalen Sonnenseiten laboriert „Ostarrîchi“ jedoch auch an der Bedeutungslosigkeit im langen Schatten ehemals goldener Zeiten, an Entwurzelung und an der Scham seiner antisemitischen Vergangenheit. Die Österreich-Identität zeigt sich im doppelten Gewand von Patriotismus und nationaler Minderwertigkeit. Diese „Morbus Austriacus“ (Friedrich Heer) manifestiert sich nicht nur auf einer Metaebene, sondern steckt auch in den Bürgern, ist unser internalisiertes nationales Erbe. Der Versuch einer Synthetisierung dieser Antithesen ist die Suche nach einem Weg aus dem Dilemma „Österreich“.

Hohe Werte für nationalen Stolz

Gefangen in der Rolle des Opfers (Moskauer Deklaration) und des Vermittlers im Kalten Krieg wurden über Dekaden hinweg nationale Fragen tabuisiert. Erst die Waldheimaffäre (1986/88) brachte die Seifenblasen nationaler Verklärung zum Platzen. Internationaler Druck führte zur nationalen Selbstbeschau, Österreich bekannte sich zur Mittäterschaft in der NS-Zeit.

Dies war zugleich die Geburtsstunde einer umfassenden österreichischen Nationalismusforschung. Laut der ISSP-Studie (2003/04) zum Thema „Nationale Identität“ weisen Österreicherinnen und Österreicher eine ungewöhnlich hohe Österreich-Identität auf. Gleiches gilt für den Nationalstolz: Neun von zehn Personen sind auf Österreich „sehr stolz“ (51 Prozent) oder „stolz“ (36 Prozent). Differenziert man die diese generellen Aussagen, zeigt sich folgender Sachverhalt: Stolz sind die Österreicher auf wissenschaftliche und technologische Leistungen („sehr stolz“: 31 Prozent, „stolz“: 46 Prozent), auf den Sozialstaat (28 Prozent, 45 Prozent), auf Kunst und Literatur (31 Prozent, 43 Prozent) und auf wirtschaftliche Erfolge (22 Prozent, 51 Prozent). Diese Werte werden jedoch in einem Kriterium überragt: Auf die Erfolge der Sportler sind 48 Prozent der Befragten „sehr stolz“, 36 Prozent sind „etwas stolz“.

Beim Vergleich der Nationen zeigt sich eine überragende Identifikation der U.S.-Amerikaner mit ihrem Staat: Mehr als 80 Prozent der Befragten sind „sehr stolz“ auf ihre Nation. Gleiches, also ein jeweils hoher Wert, gilt auch in den anderen Kriterien. Doch im direkten Vergleich übertreffen die Österreich die US-Amerikaner in zwei Kriterien: Im Stolz auf den Sozialstaat und auf Erfolge im Sport. Der Sport ist eben das Paradekriterium unserer nationalen Identität.

Einen wesentlichen Befund ergibt zudem noch der Vergleich des Nationalstolzes in Deutschland mit jenem in Österreich. Aufgrund historischer Parallelen im 20. Jahrhundert und aufgrund der Gleichzeitigkeit des großen und des kleinen Wirtschaftswunders liegt die Vermutung nahe, es bestehe eine ähnlichen Stolz-Scham-Disposition. Das trifft jedoch nicht zu. Unter den weltweit 35 untersuchten Nationen finden sich unsere deutschen Nachbarn in der Kategorie Nationalstolz an letzter Stelle: Nur 16 Prozent der Westdeutschen und 12 Prozent der Ostdeutschen sind „sehr stolz“ auf ihre Nation (Österreich: 51 Prozent).

Hierzu gilt folgende Konklusio: Die Scham der Vergangenheit hat in Deutschland Einzug in das Konzept neuer nationaler Identität gehalten. Österreich ging einen anderen Weg und zwar als janusköpfige Gestalt. Die zweite, dunklere Seite Österreichs ist zu thematisieren.

Transformation und Dolchstoß

Krisen und historische Brüche prägen das Bild einer Nation, das sich diese von sich selbst während des steten Wechsel von Scham und Stolz macht. In diesen Transformationen des Stolz-Scham-Haushaltes sind für Österreich drei Stadien zu unterscheiden.

Als ersten Dolchstoß interpretieren wir die Niederlage des bereits kränkelnden „Völkerkerkers“ Österreich bei der Schlacht von Königgrätz 1866. Die Großdeutsche Lösung konnte nicht realisiert werden und der österreichisch-ungarische Ausgleich entsprang mehr einer Not als einer Tugend. Der monarchische Föderalismus des Habsburgerreiches versuchte sich gegen den Nationalismus zu stemmen. Die „Slawen-Frage“ brachte jedoch das Fass zum Überlaufen. Der Erste Weltkrieg wurde losgetreten und das Ende der Monarchie eingeleitet – zweiter historischer Bruch.

„Deutsch-Österreich“, an dessen Überlebensfähigkeit nur wenige glaubten, wurde geboren. Minderwertigkeit und Depression dominierten, weshalb rasch der Anschlusswille an den großen deutschen Bruder formuliert wurde. Dessen Erfüllung leitete schließlich den dritten Teil der Tragödie „Österreich“ ein: Mittäterschaft im Naziregime, Niederlage im Zweiten Weltkrieg, Besatzungszeit.

Das Generationengedächtnis Österreichs kennt drei aufeinanderfolgende Phasen: die Zeit vor dem Niedergang, 100 Jahre Niedergang und die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik. Diese Sonnen- und Schattenzeiten der österreichischen Geschichte manifestieren sich in den Sonnen- und Schattenseiten unserer nationalen Identität.

Eine neues Österreich

Eine Nation erweist sich keineswegs als ahistorische Existenz. Vielmehr gründet sich eine solche auf besonderen Ereignissen, auf Krisen und deren Bewältigungen. Daher stellt die Nationalismusforschung dem österreichischen Selbstverständnis – aufgrund der oben skizzierten Traumatisierungen – ein schlechtes Zeugnis aus.

Eine Nation gründet sich auf einigenden Ereignissen. Die Zweite Republik kennt jedoch kein nationales Selbstbekenntnis mit Potenzial zu einem identitätsstiftenden Mythos. Wir verfügen über keinen Wilhelm Tell, keinen Prager Frühling und keine Französische Revolution. Im Gegenteil, die Geschichte Österreichs erweist sich im 20. Jahrhundert als hochgradig fremdbestimmt. Selbst die vielgerühmte Neutralität wurde uns aufgezwungen.

Im politischen Kontext ist eine Österreich-Identität kaum gegeben. Es besteht nur wenig Interesse, Gelder für das Bundesheer bereitzustellen, ein fahnentreuer Mitbürger wird leicht als Extremist stigmatisiert, die Textlücken beim Singen der Nationalhymne sind beträchtlich. So mancher Gelehrter spricht sich für die Anerziehung einer politischen Österreich-Identität aus.

An diesem Punkt ließe sich ein alternativer Weg einschlagen, der bedeutet, sich von den Dekreten der Nationalismusforschung zu distanzieren. Wir begehen ein Sakrileg, indem wir klassischen Nationskriterien – Militär, Hymne, Flagge, Nationalfeiertag – abschwören und uns auf ein entpolitisiertes, ahistorisches Selbstbild berufen. Denn der Geschichtshorizont der österreichischen Bevölkerung beginnt mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs; der Tag der Arbeit dominiert über den Nationalfeiertag, ebenso wie es Fendrichs „I am from Austria“ über unsere offizielle Hymne tut.

Man könnte sogar einen Schritt weitergehen, die Paradigmen der Moderne zurücklassen und sich dem Pluralismus der Postmoderne zuwenden. In dieser von Traditionen befreiten Zeit kann sich das Individuum selbst erfinden, warum sollte dies nicht auch für eine Nation gelten? Klassische Kriterien nationaler Identität treffen auf Österreich nur bedingt zu und so muss, oder zumindest darf unsere Nation einen neuen Weg beschreiten.

Das junge apolitische, ahistorische Österreich gründet sich auf dem ökonomischen Mythos mit Namen „Die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik“. Teil seiner Identität sind sportliche Erfolge, die Landschaft, hohe sozioökonomische Standards, Kunst, Literatur und Kulinarik. Unsere nationalen Gefühle entzünden sich nicht während einer Flaggenparade, sondern beim Verzehr einer Sachertorte. Seien wir ehrlich: Ist dies tatsächlich das Schlechteste?

* Autor ist Soziologe in Graz

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