"Unsere Schulen sind ungesund"

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22 Jahre lang war Walter Stögmann ärztlicher Leiter des Preyer'schen Kinderspitals in Wien. Im Interview erklärt der angesehene Jugendmediziner, woran die junge Generation krankt.

Die Furche: Die Meldungen über den schlechten Gesundheitszustand von Österreichs Jugend häufen sich. Was ist das größte Problem?

Walter Stögmann: Das größte Problem ist sicher, dass die Jugendlichen kein Gesundheitsbewusstsein haben. Sie sind zwar primär selbst schuld daran, aber natürlich werden diese Haltungen durch die Schule, die Eltern oder die Freunde vorgegeben. Eltern wie Lehrer sind in ihrem Lebensstil, in ihrem Ess- und Rauchverhalten, meist schlechte Vorbilder.

Die Furche: Beim Rauchen sind Österreichs Jugendlichen weltweit Spitzenreiter. In den USA dagegen rauchen immer weniger Jugendliche - als Folge extrem hoher Zigarettenpreise und restriktiver Rauchverbote. Würden Sie sich hierzulande solche Maßnahmen wünschen?

Stögmann: Ich glaube nicht, dass man die Raucherzahl durch behördliche Verbote senken kann, wie die Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen gezeigt haben. Es war abzusehen, dass das überhaupt keine Wirkung hat, sondern es wurde sogar zum Sport, Hüllen zu sammeln, die diese Hinweise abdecken. Eine Einschränkung wäre es sicher, wenn die Zigarettenpreise steigen würde. Aber der eigentliche Grund, warum die Jugendlichen rauchen, ist das damit verbundene Imponiergehabe. Die Jugendlichen inhalieren ja nicht einmal richtig, sie haben die Zigarette nur kurz im Mund oder in den Fingern, weil das offensichtlich als cool angesehen wird. Man kann das nicht über erschütternde Aufschriften auf Zigarettenpackungen in den Griff bekommen, sondern nur über das soziale Umfeld, über die Lebensstiländerung der Jugendlichen.

Die Furche: Wie lässt sich eine solche Lebensstiländerung herbeiführen?

Stögmann: Von oben wird das schwer zu beeinflussen sein. Man müsste durch entsprechende Präventionsprogramme in den Schulen darauf hinweisen, welche Schäden Nikotin oder ungesunde Ernährung bewirken können. Am besten wäre es, wenn es in den Schulen selbst Gesundheitsförderungsprogramme gäbe. Es ist für die Jugendlichen wohl wichtiger, gesundes Essen zu lernen, als in Biologie Details zu lernen, die sie später nie mehr brauchen.

Die Furche: Wird in den Schulen genügend Aufklärung betrieben?

Stögmann: Nein, leider absolut nicht. Auch die ein, zwei Stunden Turnunterricht in der Schule sind viel zu wenig. Die Jugendlichen haben zu lange Schulunterricht und kommen dann müde nach Hause. Sie haben gar nicht die Möglichkeit, ein regelmäßiges Mittagessen einzunehmen, sondern gehen in den nächsten Schnellimbiss und trinken Cola. Die Schulen lassen ihnen gar keine Möglichkeit, wirklich gesund zu leben.

Die Furche: Würden Sie in diesem Sinn für eine Ganztagsschule - inklusive Ausspeisung - plädieren?

Stögmann: Ja, absolut. Eine Ganztagsschule mit einem normalen Mittagessen wäre für die Kinder sicher gesünder als die jetzigen Schulen, die bis 14 oder 15 Uhr dauern, wo die Kinder nur ein Brot essen, müde nach Hause kommen und dann auch noch Aufgaben machen müssen.

Die Furche: Sowohl beim Rauchen als auch beim Alkoholkonsum holen die Mädchen in letzter Zeit beängstigend auf. Wie erklären Sie sich diesen Trend?

Stögmann: Ich sehe das als Emanzipationsbestreben: Früher haben vor allem Männer sich so verhalten, nun haben die Frauen und damit auch die jungen Mädchen nachgezogen - und überziehen es sogar noch. Ich bin aber überzeugt, dass sich das im Lauf der nächsten Jahre einpendeln wird - hoffentlich auf einem niedrigeren Niveau als zurzeit.

Die Furche: Eine Emanzipation in die andere Richtung gibt es bei den Essstörungen, von denen immer mehr Burschen betroffen sind. Wie aufmerksam ist man in der Schule für solche Fehlentwicklungen?

Stögmann: In der Schule ist man für solche Probleme nicht besonders sensibel. Eher wird das noch von Gleichaltrigen registriert. Die betroffenen Burschen und Mädchen gehen außerdem oft nicht wegen ihrer Untergewichtigkeit zum Arzt, sondern wegen Kopfschmerzen oder Kreislaufproblemen. Hier kann man als geschulter Arzt schon aufmerksam werden, dass eine Bulimie oder eine Anorexie zu Grunde liegt.

Die Furche: Oft wird behauptet, dass die Jugend von heute unter einem besonderen Druck stehen würde und sich deshalb psychische Störungen häufen. Teilen Sie diese Ansicht?

Stögmann: Es trifft sicher zu, dass psychische oder psychosomatische Störungen bei Jugendlichen im Zunehmen sind. Das ist sicher eine Folge ihrer sozialen Umwelt, des Leistungsdruckes in der Schule, aber auch der existenziellen Ängste um den Arbeitsplatz. Dazu kommt, dass die wenigsten Jugendlichen in einem entspannten familiären Umfeld leben können, weil die Familie oft zerbrochen ist oder die Eltern abends müde und hektisch nach Hause kommen. Die familiäre Wärme, wo sich ein Jugendlicher aussprechen kann, wird selten.

Die Furche: Wie häufig ist es, dass es zu Hause sogar zu körperlicher oder psychischer Gewalt kommt?

Stögmann: Ich glaube nicht, dass die körperliche Gewalt im Zunehmen ist, obwohl die Zahlen horrend sind: Sechs von tausend Kinder werden pro Jahr in Österreich körperlich misshandelt, wobei die Dunkelziffer sehr groß ist. Aber ungleich häufiger sind sicher psychische Misshandlungen, Vernachlässigungen oder Erniedrigungen innerhalb der Familie oder innerhalb der Peer-Gruppe, was wiederum eine Folge des Überdruckes ist, der auf den Jugendlichen lastet.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

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