Unter Baggern

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Die Bauwirtschaft treibt die Archäologen vor sich her. Im römischen Favianis (Mautern) etwa gibt es nur noch - höchst ergiebige Notgrabungen.

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Die Bauwirtschaft treibt die Archäologen vor sich her. Im römischen Favianis (Mautern) etwa gibt es nur noch - höchst ergiebige Notgrabungen.

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Ein Telefonat genügt, und Stefan Groh muß alles liegen und stehen lassen. Auch kurz vor Weihnachten erreichte den Archäologen ein Anruf aus Mautern (Niederösterreich), in dem ihm ein besorgter Anrainer mitteilte, daß auf dem Grundstück der Familie J. ohne Genehmigung ein Bagger aufgefahren war. Kurz entschlossen eilte Groh von Wien donauabwärts und stoppte die Arbeiten. Das Grundstück liegt nämlich in einer archäologischen Zone, und dort muß laut Denkmalschutzgesetz vor jeder Bebauung nach Relikten der Vergangenheit gegraben werden. Die Häuslbauerfamilie war verzweifelt: In einer Woche würde das bestellte Fertigteilhaus geliefert, jammerten sie. Wenn das Fundament bis dahin nicht stünde, müßten sie dem Hersteller eine Pönale von 150.000 Schilling bezahlen. Groh wußte: eine Notgrabung muß her.

Er schaffte die Grabung in nur vier Tagen. Das Fundament konnte rechtzeitig fertiggestellt werden.

"Das ist das Spannungsverhältnis, in dem wir Archäologen in Österreich stehen. Wir graben nur noch dort, wo gerade gebaut wird", klagt Groh, der am Österreichischen Archäologischen Institut beschäftigt ist: "Ungefähr vier Fünftel aller Grabungen in Österreich sind Notgrabungen." Systematische Forschung sei unter diesen Umständen kaum noch möglich, sagt der junge Archäologe.

Seit drei Jahren wird in Mautern, wo sich in der Antike die römische Siedlung Favianis befand, nur noch "vor dem Bagger" (Groh) gegraben. 1997 sollte in Mautern eine "Billa"-Filiale hochgezogen werden. Für den Ort ein Vorhaben höchster Wichtigkeit, denn der letzte Greißler hatte gerade zugemacht, die Nahversorgung war zum Erliegen gekommen. Der Druck seitens der Gemeinde, die vorgeschriebenen Denkmalschutzgrabungen so schnell wie möglich abzuschließen, war daher enorm. Innerhalb von nur acht Monaten wurden 4.500 Quadratmeter Boden untersucht.

"Ohne modernste Methoden hätte man mit dem Bau des Supermarktes und zweier Einfamilienhäuser heute noch nicht beginnen können", sagt Groh. Aufgrund des immensen Zeitdrucks und der riesigen Fläche waren die Archäologen gezwungen, ihre Dokumentationsmethoden radikal zu erneuern. Statt wie bisher mühsam Zeichnungen mit der Hand anzufertigen, werden nun die Daten des Theodoliten - eines komplexen Instrumentes zum Messen von Winkeln - direkt in einen Computer eingespeist, wo mittels einer speziell adaptierten Software auf der Stelle ein digitales, dreidimensionales Abbild der Fundstelle erstellt wird. Groh spricht von einem Quantensprung: "Wir haben nicht einen einzigen Bleistift in der Hand gehabt", erinnert sich der Archäologe.

Der Aufwand hat sich gelohnt, denn Favianis ist ein höchst interessanter Ausgrabungsort. Der Ort war als Kastell am norischen Donaulimes ab dem ausgehenden 1. Jahrhundert bis in die Spätantike besiedelt. Die militärische Befestigungsanlage wurde schnell zum Handelsstützpunkt. Der Limes, die durch Wehrbauten gesicherte Grenze des Römischen Kaiserreiches, stand nämlich Warenflüssen durchaus offen. Vor allem in der Spätantike erlangte die Siedlung als Zufluchtsstätte der letzten romanischen beziehungsweise romanisierten Bevölkerung Bedeutung. Der heilige Severin von Noricum wirkte in Favianis, wo er auch im Jahre 482 starb. In der 29 Jahre nach seinem Tod verfaßten Biographie "Vita Sancti Severini" ist ausführlich von Favianis die Rede. "Schriftliche Überlieferung und archäologische Befunde fallen zusammen", jubelt Groh - ein Glücksfall, denn die meisten Orte dieser Größe waren antiken Chronisten keine längeren Ausführungen wert.

Bis heute konnten große Teile des Militärlagers - Wachtürme, Teile der Kastellmauern und der Innenbauten -, größere Flächen der das Kastell umgebenden Zivilsiedlungen sowie die spätantiken Gräberfelder untersucht werden. Vor drei Jahren konnte im Rahmen von Baumaßnahmen im Ortskern von Mautern erstmals ein Blick auf die Innenverbauung des Kastells geworfen werden. Das warf ein neues Licht auf Öko- und Sozialsystem von Favianis in allen Phasen seiner Entwicklung. Die Verbreitung von Hirse und die zeitlich verschiedenen Formen der Schlachtung sind ebenso erforscht wie anthropogene, das heißt vom Menschen verursachte Veränderungen des Ökosystems: Das Kastell wurde an einer ursprünglich überschwemmungssicheren Stelle angelegt. Nach dem 2. Jahrhundert jedoch kam es in Favianis regelmäßig zu Überschwemmungen. Die Römer hatten große Teile jenes Auwaldes donauaufwärts abgeholzt, der dem Strom als Innondationsgebiet diente. Als das Imperium die Provinz Noricum aufgab, wuchsen die Auwälder wieder nach, und die Überschwemmungen blieben aus.

Heute droht ein Kahlschlag anderer Art: "Ein wichtiges kulturelles Potential baggern wir uns einfach weg", kritisiert Groh den Verlust von geschätzten 80 Prozent der archäologischen Überreste im Boden. Durch Häuslbau ebenso wie durch Ortskernverdichtung werden Zeugnisse der Vergangenheit für immer vernichtet. "Wir Archäologen sagen immer: Haltet Euch Flächen frei! Aber viele verstehen nicht, daß da Schätze im Boden liegen." Dabei ist Stefan Groh noch relativ gut dran: Denn in Mautern wisse man die Relikte aus der Römerzeit zumindest theoretisch zu schätzen.

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