"Unterhaltungsmusik an alle Konservatorien"

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Er leitet seit kurzem das Konservatorium in Rom und hat dennoch bereits Aufsehen mit der Aufführung von "Mass" von Leonard Bernstein erregt, der Musikwissenschaftler und Dirigent Lionello Cammarota. Und er plädiert für die stärkere Berücksichtigung der Unterhaltungsmusik in der Ausbildung des Musikernachwuchses...

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Er leitet seit kurzem das Konservatorium in Rom und hat dennoch bereits Aufsehen mit der Aufführung von "Mass" von Leonard Bernstein erregt, der Musikwissenschaftler und Dirigent Lionello Cammarota. Und er plädiert für die stärkere Berücksichtigung der Unterhaltungsmusik in der Ausbildung des Musikernachwuchses...

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die furche: Maestro, wie kann man das Konservatorium von Santa Cecilia auf dem Niveau der italienischen und europäischen Musikwelt einstufen?

Lionello Cammarota: Es wäre besser von internationalem Niveau zu sprechen, denn wir haben Schüler aus der ganzen Welt: asiatische Musikstudenten von Südkorea bis China und Japan, viele aus Südamerika, einige aus den USA. Nur ein Beispiel für unser heutiges künstlerisches Niveau: Unlängst brachte das Orchester des Konservatoriums - 96 Schüler und Dozenten gemeinsam mit dem Chor von 120 Studenten - in der Sala Nervi im Vatikan, vor 7.000 Zuhörern zum ersten Mal in Europa die integrale Version der "Mass" von Leonard Bernstein zur Aufführung. Millionen von Zusehern haben das im Fernsehen gehört und gesehen. Die italienische und internationale Kritik bestätigte, dass diese Aufführung auf höchstem Niveau war. Das heißt, dass es dieses von mir in kürzester Zeit zusammengestellte Orchester, auf das ich sehr stolz bin, heute mit jedem Berufsorchester aufnehmen kann.

die furche: Welcher Unterschied besteht zwischen der berühmten von Pierluigi da Palestrina 1566 gegründeten Accademia di Santa Cecilia, der ältesten Musikinstitution überhaupt, und dem Konservatorium von S. Cecilia, dessen neuer Direktor Sie sind?

Cammarota: Das ist eine sehr einfache Sache, die aber sogar von den Römern verwechselt wird. Die Accademia wird von einer Gruppe von alten Musikern gebildet, alle sehr bedeutende Persönlichkeiten. Ich nenne sie unsere älteren Vettern. "Accademici" zu sein, ist für sie ein Ehrentitel, sonst nichts. Die "Accademia" ist eine Konzerteinrichtung, das heißt: In Italien gibt es nach dem Gesetz 13 Operneinrichtungen, die "Accademia" gehört zu diesen 13 - auch wenn sie nur Konzerte gibt. Wir am Konservatorium bilden hingegen die Musiker von morgen aus, jeden in seinem Spezialfach.

die furche: Haben Sie das erwähnte Orchester gegründet?

Cammarota: Ich habe dieses Orchester bei meinem Amtsantritt vor ein paar Monaten gegründet. Aber wir haben sogar zwei Orchester, eines für Schüler in der Mitte ihrer Ausbildung, das andere für Schüler, die fast fertig sind oder für bereits diplomierte Musiker. Der bekannte Komponist, Luciano Berio, der heutige Kommissar der "Accademia" hat einmal erklärt, dass ein Orchester das Herz eines Konservatoriums sei.

die furche: Können Sie einige frühere wichtige Dozenten oder Schüler des Konservatoriums nennen?

Cammarota: Aus dieser Schule ging der Dirigent Carlo Maria Giulini hervor. Franco Ferrara, der bedeutendste Dirigent des letzten Jahrhunderts und Erbe Toscaninis war hier Dozent. Ebenso studierten hier der Komponist Ennio Morricone, Renzo Rossellini und die Opernsängerin Mariella Devia. Gianni Morandi war Schüler hier und der in Österreich sicher bekannte Dirigent Gianluigi Gelmetti. Ein nettes Beispiel ist vielleicht Anna Magnani, die hier studiert hat. Nur hat sie dann einen anderen Weg eingeschlagen und wurde die große Schauspielerin, die alle kannten.

die furche: Welche Musikarten ziehen sie hier vor?

Cammarota: Unser Repertoire ist enorm. Es umspannt, Symphonisches, Kammermusik und Opern. Wir führen auch eine Gesangschule.

die furche: Sie haben sich in ihren Büchern mit dem Werk Arnold Schönbergs beschäftigt. Was hat Sie dazu veranlasst sich so intensiv mit der Wiener Schule zu befassen?

Cammarota: Seit meinen Studienzeiten habe ich mich mit dem deutschen Expressionismus beschäftigt. Dabei stößt man automatisch, was die Musik betrifft, auf Arnold Schönberg. Da ich ein Künstlersohn bin, kannte ich von Jugend auf die Wiener Schule. Ich interessierte mich besonders für die Zweite Wiener Schule, denn von der Ersten sagt man allgemein, dass sie von Haydn, Mozart und Beethoven geformt ist, dabei vergisst man immer Schubert hinzuzufügen. Vom musikwissenschaftlichen Standpunkt aus, gab es zu Beginn meiner Studien ein großes Missverständnis, was Arnold Schönberg betrifft, eine Konfusion zwischen dem Theoretiker und dem Musiker Schönberg. Man darf die beiden nicht verwechseln, da das Niveau des Theoretikers und das des Musikers völlig verschieden sind. Ich bin überzeugt davon, dass der Theoretiker Schönberg eine der wichtigsten Figuren der letzten 3.000 Jahre ist; er ist der Schöpfer der vollkommenen Umformung der Musik, der totalen Erneuerung, so wie es Zarlino vor 350 Jahren und Guido D'Arezzo noch weitere 500 Jahre zurück waren. Er hat bemerkt, dass man nach Wagner nicht mehr auf einer bereits abgenützten Straße weitergehen konnte. Er hatte den großen Mut einen neuen Weg zu finden, ein neues System, sein eigenes System und zwar das dodekaphonische. Auch einige Große des Jahrhunderts haben ihr System gefunden wie Stravinskij, Hindemith, Bartok und Prokofiev.

die furche: Und von Schönbergs Musik halten Sie weniger?

Cammarota: Da behaupte ich etwas, was vielleicht vielen nicht recht ist: Seiner Musik fehlt der ästhetische Aspekt, sie hat keine Mitteilsamkeit. Man sage mir ja nicht, dass sein Konzert für Klavier und Orchester ein Meisterwerk sei, denn es ist ein großer Lärm. Man sage mir ja nicht, dass der expressionistische Einakter "Die glückliche Hand" großartig sei. Der von Schönberg selbst verfasste Text ist das Meisterwerk eines pessimistischen Philosophen, aber die Musik dazu hört man einmal und nie wieder. Sie ist die Negation der Kunst und des musikalischen Geschmacks, absolut unmöglich. Er hat sogar selber geschrieben, "nach meinem Tod wird man mich überschätzen" und das tat man auch. Jetzt ist er in seine Rangordnung zurückgekehrt und wird nur selten aufgeführt.

die furche: Gibt es Ihrer Meinung nach einen Zusammenhang zwischen der italienischen und der österreichischen Musik?

Cammarota: Bis zum Settecento (18. Jahrhundert) gab es einen großen Zusammenhang. Mozart hat italienische Opern geschrieben. Mozart ist die Zusammenfassung aller Musikstile, vor allem der italienischen. Dann trennten sich die Wege, haben sich aber heute wiedergefunden, und zwar mit der Unterhaltungsmusik, die heute triumphiert. Sie sollte in allen Konservatorien der Welt gelehrt werden, denn sie bringt am Meisten ein, man muss sich den Markt vor Augen halten. Man darf nie vergessen, dass die Musik eine Ware ist. Alle großen Komponisten haben Musik geschrieben, um bezahlt zu werden, denken wir an Beethoven und Haydn. Je bessere Musik einer machte, um so mehr verdiente er. Ich bin überzeugt davon, dass man eben aus Gründen der Nachfrage des Marktes heutzutage in den Konservatorien das Studium des Jazz einführen soll. Jazz ist keine klassische Musik, aber eine Variante. Er hat einen Volksursprung und wurde von Musikern wie Gershwin oder Bernstein eingesetzt. Er ist zu wichtig, um bei Seite gelassen zu werden, vor allem auch weil er zur Improvisation einlädt. Wenn wir in die Vergangenheit schauen, sehen wir, dass die großen Komponisten große Improvisatoren waren, Beethoven setzte sich ans Klavier und spielte stundenlang aus dem Stegreif. Heute ist das Können verlorengegangen, der Jazz aber könnte es wiedererwecken.

die furche: Und sie plädieren tatsächlich für Unterhaltlungsmusik an den Konservatorien?

Cammarota: Warum sollen Volksschlager a la Sanremo in Italien, Volkslieder der Wiener oder Chansons der Franzosen ausgeschlossen werden? Wien war die Heimatstadt des Liedes, es war nichts anderes als ein Volkslied. Trotzdem haben sich die größten Komponisten damit befasst, sogar Schubert, dessen wichtigster Kunstzweig das Lied war. Und was soll man zur Musik der Diskotheken sagen? Sie wirft sehr viel ab, ist ein ganz anderes Genre und es ist überhaupt nicht leicht, diese Art von Musik zu schreiben. Figuren wie Michael Jackson oder Madonna, die den Sektor beherrschen und die Musik auf industriellem Niveau produzieren, lehren uns, dass man heute in den Konservatorien Kurse halten sollte, um jene Schüler, die für diese Art von Musik begabt sind, auszubilden.

die furche: Welche berufliche Aussichten haben denn Ihre Studenten?

Cammarota: Eine sehr schwierige Frage. Man müsste eine Glaskugel haben, um in die Zukunft zu sehen. In Italien gab es lange Zeit keine Musikerziehung an den Schulen. Der Italienische Rundfunk musste sogar drei Orchester entlassen. Wegen mangelnder Vorbereitung der Bevölkerung, gab es immer weniger Nachfrage. Seit Jahren sage ich meinen Schülern, wenn sie wirklich gut sind, sollten sie aus Italien weggehen. Länder wie Deutschland, England, Österreich, Australien, die USA geben seriösen Musikern bessere Arbeitsmöglichkeiten.

Das Gespäch führte Susanne Nati Draxler in Rom.

Zur Person Maestro und Arnold Schönberg-Experte Maestro Lionello Cammarota ist in Neapel geboren. Er ist Musikwissenschaftler und -kritiker und erwarb sein Diplom als Dirigent am Konservatorium S. Cecilia mit Franco Ferrara. Er war Dozent für Musikgeschichte an der Nationalen Akademie für Dramatische Kunst S.D'Amico in Rom und am Konservatorium G.Verdi in Mailand. Seit 1979 hat er den Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Musik am Konservatorium S.Cecilia, wo er auch Komposition unterrichtete. Er veröffentlichte zahlreiche Werke unter anderen über den Orpheus von Monteverdi, über Arnold Schönberg und die Dodekaphonie und eine dreibändige illustrierte Musikgeschichte die 1990 ergänzt wurde.

Er ist seit Dezember 1999 der neue Direktor des Konservatoriums von S.Cecilia in Rom das sich in einem früheren Kloster aus dem 16. Jahrhundert in der via dei Greci befindet.

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