Urbaner Ort der Erinnerung

Werbung
Werbung
Werbung

Abschied vom Wiener Südbahnhof: Persönliche Reminiszenzen von einem, der Anfang der achtziger Jahre aus Niederösterreich auszog, die Großstadt zu erobern.

Auch ich bin hingefahren. Freitag nachmittag, den 11. Dezember, einen Tag vor der endgültigen Schließung des Südbahnhofs, wollte ich noch ein letztes Mal meine Eindrücke auffrischen und – ich gestehe es – mit leiser Wehmut eines Ortes gedenken, der für mich, wie für viele andere, weit mehr war als „nur“ ein Bahnhof.

Schon bei der Hinfahrt mit einem Wagen der Straßenbahnlinie D brachte ein deutsches Touristenpaar die Zukunft des Gebäudekomplexes auf den Punkt: „Ich glaube, der Bahnhof wird jetzt platt gemacht.“ Platt gemacht, das ist das nüchterne Schicksal des immerhin größten Bahnhofs Österreichs, dessen eindrucksvolle Halle – anders als beim Wiener Westbahnhof – nicht unter Denkmalschutz steht. Leider, muss man sagen, ist sie doch das Herzstück des 1955 bis 1961 nach Plänen von Architekt Heinrich Hrdlicka errichteten Bahnhofsensembles. Nirgends sonst konnte man ein derartig imposantes Raumgefühl erleben, jene großzügige Weite und Leere, die sich trotz der vielen, architektonisch nur allzu oft missglückten Einbauten offenbarte.

Auch für mich, der ich Anfang der 1980er Jahre täglich zum Studium nach Wien pendelte, war es stets ein besonderer Eindruck. Aus einem kleinen niederösterreichischen Dorf kommend, stand hier die Großstadt real wie symbolisch vor mir, in Dimensionen, die ich bisher nicht gekannt hatte. Dazu andauernde Menschenbewegungen, auf mehreren Ebenen gleichzeitig, einer unsichtbaren Choreografie folgend.

Nun wird die Halle zur Bühne des Abschieds. Auf Schritt und Tritt treffe ich bei meinem Besuch auf fotografierende Menschen, die umherstreifen und „ihren“ Bahnhof noch ein letztes Mal im Bild festhalten. Die einen behutsam den Blickwinkel auswählend, andere im Vorbeigehen schnell ein Foto auf dem Weg zum Zug machend. Gewohnte Wege werden dokumentiert, Lieblingsplätze aufgesucht, ein letzter Überblick als Abschiedsblick.

Das Ende wird zum Event

Mit einer derart intensiven Erinnerungs- und wohl auch Trauerarbeit habe ich nicht gerechnet. Eindrucksvoll verdeutlichen die ständigen Blitzlichter, wie sehr der Bahnhof mittlerweile im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, wie sehr er – aufgrund seines Aussehens und seiner schlechten Erreichbarkeit wegen oft geschmäht – in knapp fünfzig Jahren zum identitätsstiftenden Ort avancierte.

Auch in den Medien wird der Abschied gebührend gefeiert. Nostalgisch gefärbte Nachrufe in den Feuilletons, architektonische Würdigungen und Erinnerungen von Zeitzeugen lassen die Geschichte des Bahnhofs Revue passieren. Abschiedsfeste vor Ort, von subversiv-klein bis offiziell-pompös mit Musik und Sonderzug, stellen den Bahnhof ein letztes Mal ins Rampenlicht und bezeugen seine zentrale Stellung im Gefüge der Stadt. Das Ende wird zum Event, sorgfältig inszeniert und arrangiert, ganz dem Stil unserer spektakelorientierten Zeit entsprechend.

Weit distanziertere und objektivere Erinnerungsarbeit wird von den Museen gefordert, deren Überlegungen schon seit Längerem um die Frage kreisen: Was soll der Nachwelt vom Bahnhof erhalten bleiben? Nur allzu gut erinnert man sich, mit welcher Kahlschlagradikalität einst die alten gründerzeitlichen Wiener Bahnhöfe verschwanden, ein Fehler, der nicht nochmals begangen werden sollte. Was ist es also wert, aufgehoben zu werden? Die großen Lettern über dem Haupteingang (auch zur Versinnbildlichung der Tatsache, dass es den Namen „Südbahnhof“ künftig nicht mehr geben wird)? Die Bahnhofsuhr (klassisch)? Fahrkartenschalter, Beleuchtungs- und Reklameanlagen, Hinweisschilder, Halleneinbauten bis hin zur Schwingtüre und zum Stiegengeländer im schönen Nachkriegsdesign? Oder spezifische Geräusche (Lautsprecheransagen, die Akustik der Halle)? Relative Einigkeit herrscht bei den Kunstwerken, wie dem „Markuslöwen“ (eines der wenigen Relikte des alten Südbahnhofs) und den beiden „Augen“ des Linzer Medienkünstlers Kurt Hochstetter, die schon früh demontiert und in Sicherheit gebracht wurden. Nicht einfach zu beantwortende Fragen, sind es doch oft flüchtige Raumeindrücke und atmosphärisch-immaterielle Dinge, die den Bahnhof für die Benutzer definieren und ihn zum spezifischen „Erinnerungsort“ machen.

Wie ein gigantischer, etwas heruntergekommener metropolitaner Empfangssalon, so wirkte der Südbahnhof auf mich, gleichermaßen faszinierend wie verwirrend in all seiner Größe und Komplexität. Er forderte mein räumliches und soziales Orientierungsvermögen heraus und fungierte als Lehrpfad für urbane „tools“, die ich später in der Stadt brauchen konnte. Etwa die unverzichtbare Fertigkeit des Rolltreppenfahrens. Schon kurz nach dem Verlassen des Bahnsteigs stieß man auf die erste Rolltreppe, deren Benützung ich einige Male üben musste, ehe sie mir zur routinierten Alltagspraxis geriet. Rolltreppen galten zur Zeit der Eröffnung des Südbahnhofs als absolute Novität. Auch in den damals entstehenden Ringstraßen-Unterführungen wurden sie als modernes Massenbeförderungsmittel eingebaut, höchstpersönlich eröffnet von Wiens Bürgermeister Franz Jonas, der sie mit feierlicher Geste in Betrieb setzte. Noch heute kann man in der Landesbildstelle Wien schöne Fotos dieses uns heute seltsam anmutenden Zeremoniells bestaunen.

Die gleitende Überwindung des doch beträchtlichen Höhenunterschieds vom Bahnsteig zum ebenerdigen Stadtniveau, die Orientierung zum richtigen Ein- bzw. Ausgang, dazu die Hektik der dahineilenden Passanten, all das bestimmte mein „Gefühl“ für den Südbahnhof. Wobei sich ein Bild besonders einprägte: das „gscheckerte“ Bodenpflaster. Der gemusterte Steinterrazzo, hart, glatt und fugenlos, begleitete mich auf allen Wegen durch den Bahnhof und wurde mir so zu seiner materiellen Essenz. Als aufmerksamer Passant fielen mir auch die schwarzen Pfeile auf, die in der Haupthalle in die Bodenplatten eingelassen waren und den Weg Richtung Bahnsteig markierten. Welch schöne subtile Wegeführung! Und welch Gegensatz zu den aufgeklebten gelben Richtungspfeilen, mit denen die ÖBB heutzutage „Zu den Zügen“ weist.

Belvedere – Würstelstand – Schweizer Garten

Dass beim Südbahnhof zum Teil wertvollste Materialien verarbeitet wurden, von Engelsberger Marmor bis hin zu Glasmosaiken, Glasziegeln und verchromtem Stahl, das war mir als Student keineswegs bewusst. Da beeindruckte mich schon mehr jener Blick, der sich beim Verlassen des Hauptgebäudes Richtung Straßenbahnlinie D bot: links die stark befahrene Gürtelstraße mit Durchblick zum barocken Belvedere, vor mir die Straßenbahnstation mit Würstelstand, rechts davon der Schweizer Garten. Das war ein richtig wienerisches Panorama, wie mir schien, unprätentiös, irgendwie zusammengestoppelt, ein sympathisch „anderes“ Entrée in die Stadt.

Die nun folgende Fahrt mit dem D-Wagen bot sodann eine weitere Initiation in das Wesen von Wien. In langsamem Tempo die Prinz-Eugen-Straße hinunter, vorbei an der Kammer für Arbeiter und Angestellte (ein weiterer bemerkenswerter Bau der Wiener Nachkriegsmoderne!), bis zum Schwarzenbergplatz, dem ersten wirklich großstädtisch anmutenden Ort. Und dann der Schwenk in die Ringstraße – und die absoluten Highlights des imperialen Wien ziehen vorbei! Vom Südbahnhof bis zur Universität, dem Ziel meiner damals täglichen Reise, das war jedes Mal ein faszinierendes Eintauchen in völlig unterschiedliche Zeiten.

Auch der neue Hauptbahnhof wird Ausgangspunkt dieser Route sein. Und solange auch er uns zum D-Wagen führt, brauchen wir – dies sei allen wehmütig Gestimmten zum Trost gesagt – wohl keine Sorge haben, dass Wien sich zu rasch verändert.

* Der Autor ist Historiker, Stadtforscher und Bereichsleiter im Technischen Museum Wien. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Neuherausgabe von „Julius Rodenberg: Wiener Sommertage“ (Czernin-Verlag, 2009)

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung