Karfreitag: Verachtende Fürbitte

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Jahrhundertelang war der Karfreitag ein Agitationstag gegen das Judentum - nicht zuletzt in der Liturgie. Bis heute stellt der Tag eine offene Wunde im christlich-jüdischen Verhältnis dar.

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Jahrhundertelang war der Karfreitag ein Agitationstag gegen das Judentum - nicht zuletzt in der Liturgie. Bis heute stellt der Tag eine offene Wunde im christlich-jüdischen Verhältnis dar.

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In der Karfreitagsliturgie des früheren Römischen Messbuches, das bis zum Ende der 1960er Jahre in der katholischen Kirche vorgeschrieben war, wurden feierlich neun Große Fürbitten gesungen (im Latein), darunter eine "für die treulosen Juden." Diese stand nach der Fürbitte für die Ketzer und Schismatiker und vor derjenigen für die Heiden. Im Gegensatz zu den acht anderen Fürbitten, bei denen die Gläubigen jeweils zum stillen Gebet, Knien und wieder Aufstehen aufgerufen wurden, geschah das nun nicht. Der Grund für die Unterlassung des Kniens war, dass sich - wie man annahm - Juden vor dem leidenden Christus niedergekniet hätten, um ihn zu verhöhnen.

Gerade diese liturgische Symbolhandlung erweckte bei den meisten Gläubigen den Eindruck, dass mit dem jüdischen Volk etwas grundlegend nicht in Ordnung sei. Dieses auffällige körperliche Zeichen hat vielleicht mehr als jedwede verbale Äußerung eine ablehnende Haltung den Jüdinnen und Juden gegenüber forciert. Insgesamt kam die "Fürbitte" für die Juden und Jüdinnen eher einer "Gegenbitte" gleich. Im Lauf der westlichen Kirchengeschichte - vor allem im Hochmittelalter - kam es mehrfach zu Pogromen am Karfreitag. Den Juden wurden nicht nur das Töten des Heilandes, sondern auch angebliche Hostienschändungen und Ritualmorde an christlichen Kleinkindern vorgeworfen. Die Höhepunkte des christlichen liturgischen Jahres, Karwoche und Osterfest, waren für Jüdinnen und Juden oft lebensgefährliche Zeiträume. Liturgischer Antijudaismus trug zum gesellschaftlichen gewalttätigen Antisemitismus bei.

Zur Kreuzverehrung nach den Fürbitten wurden die "Improperien" gesungen: Die Klage Gottes über sein Volk, das er aus Ägypten führte und in der Wüste ernährte und das ihm dafür Folter, Galle und Essig zurückgab. Obwohl in diesem Text weder die Juden namentlich genannt werden noch das angeklagte Volk verurteilt wird, ist der Text oft - statt auf die versammelte christliche Gemeinde - auf das jüdische Volk angewandt worden.

Nicht nur ein Problem der Katholiken

Es wäre zu einfach, zu denken, dass dies alles ausschließlich das Erbe der römisch-katholischen Kirche ist. Auch die orthodoxen und orientalisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaften, die evangelischen Kirchen, die anglikanische Kirchengemeinschaft und die altkatholische Tradition sind vom frühchristlichen und mittelalterlichen antijüdischen Erbe beeinflusst worden.

Der Auslöser für eine grundlegende Veränderung in der römisch-katholischen Kirche war die Ermordung des europäischen Judentums während des Zweiten Weltkrieges. Im Jahr 1956 wurden die Kniebeuge und das stille Gebet wieder eingeführt und so wurde ein für das Judentum erniedrigendes Brauchtum abgeschafft. Gleichzeitig bekam die Fürbitte für die Juden eine neue Überschrift: "Für die Bekehrung der Juden". Die Veränderung der Überschrift war eher ein Rückschritt, weil sie mit der umstrittenen Judenmission in Verbindung gebracht werden konnte.

Der 1958 gewählte Papst Johannes XXIII. ließ ab 1960 für die gesamtkirchliche Liturgie die Worte "treulos(igkeit)" streichen. Daher enthält die letzte Ausgabe des früheren Missale Romanum, nämlich die von 1962, diese Worte nicht mehr. Von der "Verblendung" des jüdischen Volkes und seinem in "Finsternissen" Verkehren war aber weiterhin die Rede. Zudem blieb die Überschrift der Fürbitte "Für die Bekehrung der Juden" stehen.

Neue Sicht aufs Judentum auch am Karfreitag

Einen Durchbruch stellte das Konzilsdekret Nostra Aetate (1965) dar, in dem die katholische Kirche ihre Verbundenheit mit dem "Stamme Abrahams" sowie den "unwiderruflichen" Bund Gottes mit dem jüdischen Volk unterstreicht. Auch andere Initiativen, wie das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Paul II. bezüglich der Sünden vieler Christen gegenüber dem jüdischen Volk (2000), zeigten neue Seiten im Buch der in dieser Hinsicht schwer belasteten Kirchengeschichte. Das gilt auch für die erneuerte Karfreitagsfürbitte im revidierten römischen Messbuch, das im Gefolge des II. Vatikanums 1970 erschien. Darin werden die Erstberufung Israels sowie herausragende Merkmale der jüdischen Religion wie die Tora und die Heiligung des Gottesnamens ausdrücklich genannt und gewürdigt. Jeglicher Bekehrungsgedanke fehlt. Die Fürbitte befindet sich nun unmittelbar nach derjenigen für die Einheit der Christen. An einer Kernstelle im Kirchenjahr wird nun bezeugt, dass Christinnen und Christen gemeinsam mit Jüdinnen und Juden - trotz Unterschieden in der Wahrnehmung der Bedeutung von Jesus von Nazareth - gemeinsam auf Gottes Wegen gehen: Ohne Israel und das Judentum - nicht nur das historische, sondern auch das heutige - sind authentische christliche Theologie und Liturgie unmöglich.

Kontoverse um die neue alte Karfreitagsbitte

Die umstrittenen Improperien sind aber erhalten geblieben, obwohl sie nun fakultativ sind. Es müsste jedoch allen klar sein, dass sie an die christliche, im Gottesdienst versammelte Gemeinde gerichtet sind: Diese - nicht das jüdische Volk - erkennt sich reumütig als treuloses Volk und wird zur Gerechtigkeit aufgerufen.

Im Juli 2007 rehabilitierte Papst Benedikt XVI. das frühere Missale Romanum mit dem Argument, dass das, was jahrhundertelang in der katholischen Kirche mit großem Respekt gehandhabt wurde, auch jetzt seine Gültigkeit nicht verloren hätte und noch immer den katholischen Glauben mitbestimme. Die Verwendung des alten Messbuches wurde als "außergewöhnliche Ausdrucksform des einen römischen Ritus" fast uneingeschränkt genehmigt. Mehrere katholische und einige jüdische Gremien protestierten dennoch gegen die Wiederverwendung der alten Karfreitagsfürbitte. Sie plädierten dafür, dass Rom die Fürbitte für das jüdische Volk, welche sich im neuen römischen Messbuch befindet, auch für die Benutzung des alten Missale Romanum verpflichtend vorschreiben würde.

Allerdings entsprach Papst Benedikt dieser Bitte nicht, sondern er entschied sich dazu, selbst einen Text zu verfassen. Dieser Text wurde im Februar 2008 in Rom veröffentlicht. Die Überschrift "Für die Bekehrung der Juden" wurde nicht geändert. Der eigene Heilsweg des jüdischen Volkes zu Gott, der im neuen Messbuch formuliert war, ist im Text des Papstes ausgefallen. Mit einem Hinweis auf Paulus' Römerbrief (11,25-26) wird Gott gebeten, wie alle anderen Völker, auch ganz Israel endzeitlich zu retten. Es existiert eine Spannung zwischen der Fürbitte im erneuerten Missale Romanum und derjenigen von Papst Benedikt für das alte Messbuch. Der neue Text führte in katholischen wie in jüdischen Kreisen zu erheblichen Kontroversen.

Die Debatte ist keinesfalls abgeschlossen

Ob er sich nun mit Recht als "Konversionsversuch" deuten lässt oder nicht, Tatsache ist, dass er in der Alltagspraxis von vielen so verstanden wird. Alte jüdische Ängste und Erinnerungen an Entrechtung, Verfolgung und Martyrium kamen wieder hoch. Man befürchtete einen Rückschritt im begonnenen katholisch-jüdischen Dialog. Im April 2008 erklärte das vatikanische Staatssekretariat offiziell, dass die neue Karfreitagsfürbitte keineswegs den Konzilstext Nostra Aetate in Frage stelle und dass die katholische Kirche das Judentum weiterhin respektiere. Gleichzeitig entflammten jedoch wieder die Debatte über die Seligsprechung von Papst Pius XII. und über dessen vermeintliches "Schweigen" bezüglich der Schoa sowie die über die christliche Mission unter Juden.

Zudem fanden bekanntlich die ewiggestrigen Äußerungen prominenter Mitglieder der Piusbruderschaft statt. Was die Missionsdebatte betrifft, erklärten einige katholische Kirchenbehörden, im Blick auf den neutestamentlichen Befund müsse aus christlicher Sicht am (nicht-aggressiven) Missionszeugnis, dass Jesus der Messias ist, festgehalten werden, auch gegenüber dem jüdischen Volk. Andere katholische Theologen wiesen jedoch auf den Eigenweg des Judentums zu Gott hin. Wie verhalten sich die christliche Überzeugung, dass Jesus Christus der Retter der Welt ist, und die in der Kirche neu gewonnene Einsicht, dass das Judentum als erste und bleibende Liebe Gottes einen Eigenweg im Licht des Ewigen geht, zueinander? Die Debatte geht weiter …

Der Autor ist Professor für Liturgie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz.

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