Verantwortete Freiheit

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Wilfried Martens, Präsident der EVP und belgischer Ex-Premier, über das Spezifikum der Christdemokraten, Europa als Werte-Union – und die Krise der katholischen Kirche.

Letzte Woche war Wilfried Martens in Wien, um den Großen Leopold-Kunschak-Preis entgegenzunehmen (siehe Kasten). Zu Beginn des Gesprächs mit der FURCHE, das aus diesem Anlass stattfand, würdigte der belgische Europapolitiker die Verdienste des früheren Außenministers und Vizekanzlers Alois Mock um die Entwicklung der 1976 gegründeten Europäischen Volkspartei (EVP), der Martens seit 1990 vorsteht. Die EVP ist ein Zusammenschluss christdemokratischer und konservativer Parteien, die weitgehend, aber nicht völlig ident sind mit jenen, die in der „Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)“ im EU-Parlament vertreten sind und dort mit 265 Abgeordneten die größte Gruppierung bilden.

DIE FURCHE: Sie sind mit dem Großen Leopold-Kunschak-Preis ausgezeichnet worden, dessen Namensgeber eine der zentralen christlich-sozialen Gründerfiguren der Zweiten Republik war. Was bedeutet es für Sie heute, fast 60 Jahre nach Kunschaks Tod, Christdemokrat zu sein, was macht den Unterschied zu anderen politischen Gruppierungen aus?

Wilfried Martens: Unsere politische Familie wird von drei Säulen getragen: Die erste ist unser Menschenbild, wir stehen für eine Europäische Werte-Union. Für uns kommt jedem einzelnen Menschen Würde zu – und wir versuchen, im politischen Leben und auch in der Entscheidungsfindung der EU auf der Basis von Freiheit und Verantwortung, von Gerechtigkeit und Solidarität zu handeln. Die zweite Säule ist unsere europäische Gesinnung. Wir sind die Nachfolger der Gründer der Europäischen Einigung – Schuman, De Gasperi, Adenauer etc. und wir wollen deren Erbe weitertragen. So haben wir den gemeinsamen Markt und die gemeinsame Währung geschaffen. Die dritte Säule ist die Soziale Marktwirtschaft – und das ist gerade heute sehr aktuell und konkret. Alle politischen Gruppierungen, die diese drei Basiselemente akzeptieren können, haben Platz in der Europäischen Volkspartei – das sind neben Christdemokraten auch konservative Parteien oder Volksparteien. Ein zentraler Begriff für uns ist auch Subsidiarität. Das hat eine vertikale und eine horizontale Dimension. Ersteres betrifft das Verhältnis zwischen Europa, den Mitgliedstaaten und den Regionen. Letzteres meint die Rolle der civil society in den diversen Ländern. Wir glauben nicht an die Allmacht des Staates und der politischen Autoritäten – der civil society kommt eine entscheidende Funktion zu.

DIE FURCHE: Manche meinen, Christdemokraten – etwa in Österreich oder Deutschland – würden oft nur wie „bessere Sozialdemokraten“ agieren, insbesondere in Fragen der Wirtschaft und des Wohlfahrtsstaates …

Martens: Wir plädieren nicht für den Wohlfahrtsstaat, wir treten für eine Gesellschaft ein, in der der einzelne und die Zivilgesellschaft die zentrale Rolle spielen und dabei auch ihre Verantwortung akzeptieren und wahrnehmen – nicht zuletzt für jene, die dazu selbst nicht imstande sind. Und die Soziale Marktwirtschaft wurde nicht von Sozialisten erfunden – das ist das Kennzeichen der Christdemokraten. Wir sind also nicht die „besseren Sozialdemokraten“, sondern wir unterscheiden uns ganz wesentlich in zentralen Themenfeldern. Jetzt ist die Soziale Marktwirtschaft im Vertrag von Lissabon verankert. Es ist also nun gewissermaßen common sense, aber Idee und Praxis sind christdemokratischen Ursprungs. Nun sind wir, nach Finanz- und Wirtschaftskrise, in eine neue Periode eingetreten, und es stellt sich die Frage, wie wir dieses Konzept in der Perspektive von Europa 2020 umsetzen. Natürlich arbeiten wir dabei in den europäischen Institutionen auch mit politische Andersdenkenden, etwa eben den Sozialdemokraten, zusammen. Aber die wesentlichen Inspirationen für das europäische Einigungswerk kamen von unserer Seite.

DIE FURCHE: Sie haben sich immer wieder dafür ausgesprochen, die geistigen und spirituellen Pfeiler Europas zu stärken und sich dabei ausdrücklich auf das jüdisch-christliche Erbe bezogen. Was für eine Rolle spielt dieses Erbe Ihrer Meinung nach tatsächlich?

Martens: Die Wurzeln der europäischen Zivilisation sind jüdisch-christlich. Und ich bin überzeugt, dass wir an diesen jüdisch-christlichen Wurzeln und den daraus folgenden Werten festhalten sollen. Wenn man sich den Abschnitt des Lissabon-Vertrags über das Europa der Werte durchliest, so stellt man fest, dass dieser wesentlich von den christlichen Wurzeln Europas inspiriert ist. Das festzustellen bedeutet kein Hindernis für einen Dialog mit anderen Weltanschauungen und Religionen – dazu sind wir bereit, auch wenn es nicht immer ganz leicht ist, Partner dafür zu finden.

DIE FURCHE: Wären Sie dafür gewesen, Gott – oder auch nur das jüdisch-christliche Erbe – in einer europäischen Verfassung zu erwähnen?

Martens: Ich habe mich immer gefragt, warum wir uns nicht auf das einigen können, was in der Präambel der polnischen Verfassung steht. Dort heißt es: „… sowohl diejenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten …“ Ich finde, eine Formulierung in diesem Sinne wäre eine gute Lösung gewesen.

DIE FURCHE: Die Frage der christlichen Wurzeln spielt oft auch hinein in jene nach einer allfälligen EU-Mitgliedschaft der Türkei. Wie stehen Sie dazu?

Martens: Wir haben hier eine ganz klare Position – wir treten für eine „privilegierte Partnerschaft“ ein. Darüber wäre zu verhandeln – und es müsste dann von den Ergebnissen dieser Partnerschaft abhängen, ob daraus zu einem späteren Zeitpunkt eine Mitgliedschaft werden kann.

DIE FURCHE: Eine Frage an Sie als katholischer Politiker: Die katholische Kirche befindet sich zurzeit in einer tiefen Krise. Wie beurteilen Sie das Krisenmanagement der Kirchenführung, was müsste in Zukunft anders laufen, um solche Dinge zu vermeiden?

Martens: Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in der die Kirche solche Themen nur intern diskutieren und regeln kann. Wir leben in einer offenen Gesellschaft, und die Kirche muss die Regeln einer solchen Gesellschaft akzeptieren und lernen. Und eine der wichtigsten Regeln lautet: Transparenz. Ich denke, die beste Stellungnahme zu dieser Causa stammt ohnedies aus Österreich – von Kardinal Christoph Schönborn. Ich war sehr angetan von seinen Reaktionen – und ich denke, das ist der einzige Weg, dem die Kirche folgen kann.

* Das Gespräch führte Rudolf Mitlöhner

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