Religionen und Atomenergie
Rainer Bucher fragte in seiner Kolumne zur Haltung der Religionen zur Atomenergie: Erst mitgemacht und dann nicht dabei gewesen? So lange gegen jede moderne Technik gewesen, dass wir ihre Macht schließlich anbeteten? Und jetzt, wo es schief geht: Haben wir wirklich etwas Eigenes zu sagen?
Genau diese Fragen habe ich mir in Bezug auf die Ereignisse im Nahen Osten gestellt. Große religiöse Institutionen wie al-Azhar in Ägypten haben jahrelang diktatorische Regime direkt oder indirekt unterstützt, dann kamen die sozial motivierten Proteste. Anfangs schwiegen die religiösen Institutionen und erst nach einer Phase der Irritation stellten sie sich auf die Seite der Demonstranten. Rainer Buchers Fragen sind mehr als berechtigt, denn unabhängig davon, ob es sich um Atomenergie oder um gesellschaftspolitische Fragen handelt, ist die Frage nach der Rolle der Religionen eine Grundsatzfrage. Wie oft habe ich es erlebt, dass Religionen bestehende Zustände einfach legitimieren.
Muslimische Theologen haben die sechs Glaubensgrundsätze (Glaube an Gott, seine Propheten, Schriften, Engel, die Wiederauferstehung und an das Schicksal) als Kriterien für das Muslimsein definiert. Nur demjenigen, der an diese glaubt, dem sei das Paradies - früher oder später - garantiert. Nun frage ich mich: Ist das alles, worum es in der Religion geht? Geht es nur um die Frage nach den richtigen Glaubensgrundsätzen? Was ist jedoch mit Grundsätzen wie Gerechtigkeit und soziale Verantwortung? Kann man religiös und zugleich sozial unverantwortlich sein?
Erst dann, wenn Muslime diese und ähnliche Prinzipien als Grundsätze und Kriterien fürs Muslimsein definieren, werden sie in der Lage sein, eine plausible Antwort auf die Frage nach der Rolle des Islams und was er den Muslimen in ihrem Leben hier und heute zu sagen hat, geben zu können.
* Der Autor ist Prof. f. Islam. Religionspädagogik an der Uni Münster
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