Verbissene Auseinandersetzungen um die „freie Enzyklopädie“

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Die Online-Enzyklopädie „Wikipedia“ ist das meist benutzte Nachschlagwerk im Internet. Nicht nur „Inklusionisten“ und „Exklusionisten“ kämpfen darin um Einfluss.

Wikipedia ist das meist benutzte Nachschlagewerk im Internet. Die Online-Enzyklopädie rangiert weltweit auf Platz Sieben der meistbesuchten Webseiten. Das Besondere an dem Online-Lexikon ist nicht nur, dass jeder Internet-Benutzer bestehende Einträge verändern oder neue verfassen kann, sondern dass es vollständig transparent ist. Mit nur einem Mausklick kann jeder hinter die Kulissen der Online-Enzyklopädie blicken. Ein lohnender Blick: Wer sich Wikipedia von Innen angesehen hat, kann die Verlässlichkeit der Informationen wesentlich besser einschätzen.

Rund 6.700 Autoren arbeiten regelmäßig an der deutschsprachigen Ausgabe mit, einige hundert davon machen den harten Kern aus. Wer glaubt, dass die Wikipedianer eine verschworene Gemeinschaft sind, der irrt. Hier toben Kriege, von denen der gewöhnliche Internet-Nutzer, der sich hin und wieder einen Artikel anschaut, nichts ahnt. Dabei braucht er nur links oben auf „Diskussion“ zu klicken, um sich einen Überblick über laufende Auseinandersetzungen zu verschaffen. Einen tieferen Einblick in die zahllosen Kontroversen bieten „Vandalismusmeldung“, „Löschkandidaten“ und „Benutzersperrung“, allesamt über das „Autorenportal“ leicht erreichbar.

Heiße Debatten

Ob Nahostkonflikt, Islamdebatte oder ethnische Konflikte: Um Themenbereiche, die schon im wahren Leben, im real life, heiß debattiert werden, wird in Wikipedia mit allen denkbaren Mitteln gestritten. Umkämpft sind auch religiöse Themen. Seit Monaten schon tobt eine Schlacht um den Artikel „Rechte Esoterik“, weil eine Minderheit die Verbindung von bestimmten Bereichen der Esoterik mit rechtsextremem Gedankengut unter den Tisch kehren will. Weil bei den umstrittenen Artikeln um jeden Beistrich gefeilscht wird, sind diese paradoxerweise oft besonders ausgewogen und gut mit Quellen belegt – außer der Zugriff ist wieder einmal wegen zu heftigem Streit gesperrt. Dann gilt: Der Artikel ist nur mit Vorsicht zu genießen.

Eine weitere Front verläuft zwischen jenen, die sich möglichst viele Artikel zu möglichst vielen Themen wünschen (Inklusionisten) und jenen, die nach dem Vorbild klassischer Enzyklopädien eine Auswahl der Information fordern (Exklusionisten). Tatsächlich gibt es in Wikipedia bestimmte Kriterien, mit denen verhindert werden soll, dass jeder Würstelstand oder jede Schülerband ihren eigenen Eintrag bekommt. Die Löschbefürworter jedoch schießen oft übers Ziel hinaus: Fanatische Exklusionisten wollten die Einträge über die Bucklige Welt oder die Tanzschule Elmayer gelöscht wissen. Diese so genannte Relevanzdebatte schlägt auch außerhalb von Wikipedia in Blogs und Foren hohe Wellen.

In diesen Auseinandersetzungen ist der Umgangston derart rau geworden, dass viele Neulinge abgeschreckt werden. Studien belegen, dass die Wikipedia-Gemeinde zunehmend Schwierigkeiten hat, engagierte Autoren zu finden. Insbesondere akademisch gebildete Fachleute werden durch die verlotterten Umgangsformen abgeschreckt. Welcher seriöse Wissenschaftler möchte sich schon von einem ahnungslosen Halbwüchsigen anschnauzen lassen?

Wikipedias Achillesferse

Die Achillesferse von Wikipedia ist die basisdemokratische Struktur der Online-Enzyklopädie. Jede größere Entscheidung wird ausgiebigst diskutiert und durch Abstimmung entschieden. Während etwa Rechtsextreme und Vandalen binnen Minuten hinausgeschmissen werden, finden Anträge auf Ausschluss von länger dienenden Mitarbeitern keine ausreichende Mehrheit. Stets tauchen bei den Abstimmungen genügend Bedenkenträger auf, die aus prinzipiellen Gründen gegen eine Benutzersperrung sind. Auf diese Weise dürfen schlimmste Löschfanatiker, Rüpel, Querulanten oder Rechthaber, die alle Andersdenkenden als Nazis diffamieren, weiter ihr Unwesen treiben. Es ist wie im real life: einzelne Radikale machen einer vernünftigen Mehrheit das Leben schwer.

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